Nur eine unvollständige Momentaufnahme

Bislang gab es nur Schätzungen: Die erste Zählung der Obdachlosen in ganz Berlin soll helfen, die Hilfsangebote zu verbessern

Von Susanne Memarnia

In der „Nacht der Solidarität“ wurden von Mittwoch auf Donnerstag erstmals die Obdachlosen der Stadt gezählt. Rund 2.600 Freiwillige durchstreiften zwischen 22 und 1 Uhr die Straßen, um dort campierende Menschen zu zählen und wenn möglich zu befragen. Mit der so gewonnenen Datengrundlage will die Senatsverwaltung für Soziales die Hilfsangebote verbessern. Bislang gibt es nur die grobe Schätzung, dass in Berlin zwischen 4.000 und 10.000 Menschen auf der Straße leben. Das Ergebnis der Zählung wird am 7. Februar verkündet.

Erste Berichte von Freiwilligen aus Zählräumen in Neukölln, Friedrichshain und Friedenau könnten darauf hinweisen, dass die Zahlen womöglich niedriger ausfallen werden als erwartet: So trafen Zählerinnen von der taz, die sich als Freiwillige an der Aktion beteiligt hatten, zum Teil Orte verwaist vor, an denen nach ihren Erfahrungen immer Obdachlose anzutreffen sind.

Dass diese erste Zählung nur eine unvollständige Momentaufnahme ergibt, hatten die InitiatorInnen um Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) einkalkuliert. Die ZählerInnen hatten Anweisung, nicht an verborgenen Orten nach Obdachlosen zu suchen. Letzteren hatte man vorab zudem in Einrichtungen geraten, wenn sie Angst um ihren Schlafplatz hätten oder ihn geheim halten wollten, sollten sie in dieser Nacht möglichst woanders nächtigen.

Paris dient als Vorbild

Vorbild für die bundesweit erste Aktion dieser Art – von Wohlfahrtsverbänden und Armutsforschern schon lange gefordert und von Wissenschaftlern der Alice-Salomon-Hochschule begleitet –, ist Paris. Dort findet seit 2018 jährlich eine „Nacht der Solidarität“ statt.

In Berlin stieß die Zählung auch auf Kritik. So hielt eine Gruppe namens „Wohnungslosenparlament in Gründung“ von Mittwochmittag bis Donnerstagabend eine Mahnwache vor dem Roten Rathaus ab, nach eigenen Angaben zeitweise mit rund 100 Menschen, einem Drittel davon Betroffene.

„Status quo“ verwaltet

Das Neuköllner Kollektiv „Friedel54“ wies auf Twitter darauf hin, dass der Begriff „Nacht der Solidarität“ in Paris zuerst von AktivistInnen geprägt worden war. 2007 hätten 200 Obdachlose unter diesem Label eine Straße besetzt und Wohnraum gefordert. „Der propagandistische Wert für die ­@SenIAS_Berlin und die Herrschenden besteht genau darin, den Begriff der #Solidarität umzulabeln und die bloße Verwaltung des Status quo als solche zu verkaufen“, schrieb die Gruppe auf Twitter.

Die Freiwilligen durchstreiften in Gruppen von 3 bis 6 Personen die in 617 Zählräume aufgeteilte Stadt. Wie der Pressesprecher von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) am Ende der Nacht erklärte, seien lediglich zwei Zählräume nicht besetzt gewesen. Ansonsten sei jede Straße der Stadt abgelaufen worden.

Die Freiwilligen waren in ihren Zählbüros, etwa Rathäusern oder Familienzentren, in den Ablauf eingeführt und auf den „Verhaltenskodex“ hingewiesen worden. Dazu gehörte, keine Obdachlosen aufzuwecken, in keine Zelte oder Hütten hineinzuschauen und auf eine respektvolle Ansprache zu achten. Obdachlose sollten zunächst auf ihre Datenschutzrechte hingewiesen werden, dafür war ein Infoblatt in acht Sprachen vorbereitet worden.

Sofern sie sich einverstanden erklärten, wurden den Betreffenden im Anschluss Fragen zu Alter, Geschlecht, Dauer der Obdachlosigkeit und Herkunft – deutsch, EU-BürgerIn oder sonstiges – gestellt. Zudem wurden sie gefragt, mit wem sie auf der Straße zusammenlebten, ob darunter auch Kinder oder Tiere seien. Wer die Fragen nicht beantworten wollte, wurde lediglich gezählt.