heute in hamburg
: „Sie haben beide nicht überlebt“

Foto: privat

David Tamm,16, geht in die 10. Klasse der Winterhuder Reformschule/Stadtteilschule. Er liest ab 11 Uhr.

Interview Andrea Maestro

taz: David, warum putzt du in deiner Freizeit einen alten Eisenbahnwaggon?

David Tamm: Es war nicht direkt in meiner Freizeit, sondern ein Schulprojekt. Ich habe den Waggon, der als Mahnmal vor unserer Schule steht, gemeinsam mit einem Freund und dem Vater eines unserer Lehrer gesäubert und neu mit kastanienroter Farbe gestrichen.

Woran erinnert er?

An Hertha Feiner und Julia Cohn, zwei Lehrerinnen, die an unserer Schule unterrichtet haben und die von den Nazis deportiert wurden. Sie haben beide nicht überlebt. Hertha Feiner hat sich noch auf der Fahrt in so einem Waggon das Leben genommen. Ein Freund von ihr war Apotheker und hat ihr eine Zyankaliekapsel mitgegeben. Die Verzweiflung war so groß und die Menschen wussten, was auf sie zukommen würde.

Was weißt du noch über die Frauen?

Die andere Lehrerin, Julia Cohn, hat ihre Kinder ins Ausland gebracht, ich glaube, es war England, und wollte selbst auch fliehen, aber es hat nicht geklappt. Sie wurde ermordet.

Ist es ein echter Waggon, der vor eurer Schule steht?

Nein, es ist ein Viehwaggon, Holzklasse. Aber in ganz ähnlichen Waggons wurden die Menschen nach Polen und Tschechien in die Konzentrationslager deportiert.

Was für ein Gefühl war es für dich, als du zum ersten Mal in diesem leeren Waggon standst?

Ich hatte ein sehr mulmiges Gefühl und war bedrückt. Wir alle kennen die Geschichte der Lehrerinnen aus dem Unterricht und laufen jeden Tag an diesem Waggon vorbei. Er steht da schon sehr lange. 1996 wurde er dort mit einem Trecker bei starkem Regen auf Rädern hingezogen. Wir haben uns als Schüler immer gefragt, was darin ist, weil er selten aufgemacht wurde. Mittlerweile war er besprayt, nicht mit schönen Graffitis, sondern schwarzen Tags, die sich über die ganze Seite zogen.

Lesung: Tagebuch der Anne Frank, im Waggon vor der Reformschule Winterhude, 8.30 Uhr bis 15.45 Uhr, Eintritt frei

Warum hat dich das gestört?

Ich finde es respektlos. Solche Schmierereien gehören nicht an einen solchen Ort. Deshalb haben wir ihn wieder hergerichtet.

Und heute wird der Waggon nach Jahren des Leerstands zur Bühne?

Ja, wir Schüler lesen den ganzen Tag aus dem Tagebuch der Anne Frank. Jeder kann dazukommen. Es gibt auch eine Theaterperformance und der Schulchor singt.