: Von ganz anderen Welten nebenan
Dirk Manthey besucht für seine Dokumentation „Small Planets“ Menschen, die an isolierten Orten leben. Der Hamburger Filmemacher will unsichtbare Grenzen ausloten
Von Wilfried Hippen
Der Begriff Parallelgesellschaft wird oft von Politikern aus dem rechten Spektrum benutzt, um den angeblich mangelnden Integrationswillen von in Deutschland lebenden Migranten zu postulieren. Der Begriff kann aber auch eine andere Bedeutung haben und ganz schlicht isolierte Räume beschreiben, in denen Menschen örtlich oder sozial abgegrenzt leben und in denen sie ihre eigene Kultur pflegen. Solche Räume gibt es viele – auch in Europa. Der Hamburger Filmemacher Dirk Manthey hat vier besonders extreme und auch überraschende dieser „kleinen Planeten“, wie er sie nennt, mit seiner Kamera besucht und eine Dokumentation gedreht.
Ein Bild aus der Dokumentation bringt Mantheys Ansatz auf den Punkt: Zu sehen ist eine Mauer, drei Meter hoch und 25 Kilometer lang. Diese Mauer umschließt das Lepra-Sanatorium „San Francisco de Borja“ im spanischen Fontilles. Hinter der Mauer lebten mal Hunderte Menschen, die an Lepra erkrankt waren – völlig isoliert von der Außenwelt. Heute leben in der inzwischen idyllischen Wohnanlage noch 62 ehemalige Patienten. Die meisten sind bereits über 80 Jahre alt. Eine Frau erzählt, wie sie als Zwölfjährige dort von ihrer Familie abgesetzt wurde, und von da an war ihr Lebensraum auf diese kleine, ruhige Welt beschränkt.
Lepra ist inzwischen heilbar, niemand wird mehr in das Sanatorium eingeliefert, doch der Fluch der Krankheit hängt immer noch spürbar über dem Ort. Auch heute spricht niemand das Wort Lepra aus, und Manthey versucht diese Sprachlosigkeit mit einer seiner wenigen symbolischen Aufnahmen einzufangen: mit einem gelben Kanarienvogel. Der Vogel sitzt in seinem Käfig, der im Zimmer eines der greisen Bewohner des Sanatoriums hängt: ein Käfig in einem Käfig also.
Diese Einstellung ist für Manthey eher ungewöhnlich. Er setzt sonst auf eine eher nüchterne und weniger plakative Bildsprache, auf lange Einstellungen und vertraut darauf, dass sich die Zuschauer in seinen Totalen umschauen und so eigene Entdeckungen machen.
Für seinen Film „Small Planets“ besuchte Manthey auch die 3,5 Quadratkilometer große Insel Grimsey, die 41 Kilometer von Island entfernt im Grönlandmeer liegt. Hier dominieren Bilder der eisigen und weißgrauen Leere. Kaum 100 Menschen leben auf Grimsey. Männer auf ihren Booten fangen Fische, im Haus redet eine Mutter mit ihren Kindern darüber, dass eines von ihnen bald die Insel verlassen wird, um auf der Hauptinsel eine höhere Schule zu besuchen. Arbeiten auf dem Boot und Familienleben in der warmen Küche – aus viel mehr besteht diese sehr kleine Welt nicht, und Manthey versucht auch nicht, diese Welt ein wenig größer zu machen als sie ist.
Manthey geht es in seiner Dokumentation darum, in den vier Kapiteln des Films jeweils einen Mikrokosmos so unverfälscht wie möglich zu zeigen. Er arrangiert Situationen, in denen etwa in Spanien zwei alte Männer auf einer Bank sitzen und ein Gespräch über alte Zeiten führen oder ein Teenager seinen jüngeren Bruder darüber aufklärt, wie hübsch die Mädchen auf seiner neuen Schule sind. Die Kamera hält sich immer dezent zurück, und Manthey verzichtet auf Erklärungen, etwa in einem Off-Kommentar. Nur ganz am Schluss liefert er zu jedem Ort in kurzen Zwischentiteln die wichtigsten Informationen.
Die größte Diskrepanz zwischen einer größeren Gemeinschaft, die eine kleinere, isolierte Gemeinde gewissermaßen umschließt, hat Manthey im italienischen Neapel gefunden. In dieser streng katholischen Gesellschaft gibt es eine Diaspora von rund 7.000 Singhalesen, die kaum Kontakte zu ihren italienischen Nachbarn zu haben scheinen. Ein junger buddhistischer Mönch hält in einem kleinen Tempel einen Gottesdienst für sie ab. Sie betreiben sogar mit einem Laptop einen eigenen kleinen Fernsehsender.
In den Gesprächen, etwa in einem Kosmetikstudio, ist Sri Lanka viel präsenter als Italien. Und wenn offiziell etwas mit den italienischen Behörden geregelt werden muss, gibt es einen Mittelsmann mit dem Titel Konsul, der sich etwa um eine Fahrerlaubnis kümmert. Ein Grund für diese Isolation ist, dass die meisten Singhalesen im historischen Armenviertel von Neapel leben. Dieses Viertel wird „die große Höhle“ genannt, weil dort eine hohe Kriminalitätsrate herrscht.
Manthey nutzt gerne und oft die sich anbietenden kontrastreichen Wechsel vom Warmen ins Kalte, vom Bunten ins Monochrome, von der Fülle in die Leere. So ist seine vierte Station ein kleiner Eisplanet. Eine der nördlichsten Siedlungen der Erde ist die Forschungsstation Ny-Alesund auf Spitzbergen, nur 1.200 Kilometer vom Nordpol entfernt. Dort leben Polarforscher aus unterschiedlichen Ländern, und Manthey hat sie offensichtlich unter vergleichsweise milden Wetterbedingungen besucht.
Das im Film thematisierte Hauptproblem ist dann auch nicht etwa die extreme Kälte, sondern die Gefahr, von einem Eisbären angegriffen zu werden. Neuankömmlinge werden instruiert, wie sie mit dieser Gefahr umgehen sollen. Eine Regel lautet etwa, das umzäunte Gelände nie ohne ein geladenes Gewehr zu verlassen. Denn wenn der Bär nicht durch laute Geräusche verscheucht werden kann, gilt die Order: „Shoot to kill“.
Manthey begleitet Forschungsteams aus mehreren Ländern bei ihrer Arbeit. Die Bewohner der Station sind immer nur eine kleine Weile dort und geben diesem Ort deswegen auch keine eigene Identität. Stattdessen versucht ein chinesisches Forschungsteam eine kleine chinesische Enklave zu schaffen: Zwei große Löwenstatuen bewachen die Haustür, und an der Wand des Konferenzraumes hängt neben dem Ölgemälde einer chinesischen Landschaft die chinesische Nationalfahne. In dieser kleinen Welt ist also noch Platz für ein noch kleineres Weltchen.
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