Toxische Tränen

Sibylle Springer beschäftigt sich in ihrer neuen Ausstellung mit Männertränen: ein seit Jahrhunderten ausgesprochen rares Gut – in der Kunstgeschichte jedenfalls

Diese Tränen sind sichtlich fremd hier Bild: Sibylle Springer

Von Patrick Viol

Um Gewalt scheint es diesmal nicht zu gehen – anders als in früheren Arbeiten der Bremer Künstlerin Sibylle Springer. Im Zentrum ihrer derzeit in der Galerie K’ laufenden Ausstellung „Neue Lügen“ steht stattdessen eine der symbolträchtigsten Körperflüssigkeiten der Kunstgeschichte: die geweinte Träne. Nur fließen diese Tränen entgegen der kunstgeschichtlichen Tradition hauptsächlich aus Männeraugen.

Die sechs Porträts basieren auf Vorlagen: Zwei davon boten italienische Maler des Manierismus, für die übrigen verwendete Springer Stockfotos anonymer Leute von heute. Fünf dieser sechs Personen scheinen im Original nicht zu weinen, die sechste tut es vielleicht. Durch ihre typische Arbeitsweise, Bildmotive mit den Farben eines wuchernd-rauchigen Hintergrunds auf eine Ebene zu setzen und sie nur anhand leichter Konturen durchscheinen zu lassen, verschwimmen die Darstellungsunterschiede der Gesichter des 16. und 21. Jahrhunderts. Die Tränen sind mit Bindemittel gemalt und verlaufen an der Bildoberfläche. Sie wirken unglaubwürdig, auch weil Mimik und Tränen nicht zusammenpassen. Sie erscheinen wie von außen hineingesetzt. Eine Träne fließt horizontal aus einem Gesicht, eine andere wirkt zwar fast naturalistisch, doch ist sie zugleich umgeben von einem großen, die Bildoberfläche zerstörenden Wasserfleck. Und dort, wo die Mimik einmal stimmt, winden sich die Tränen wie transparente, an manchen Stellen silbern blitzende Würmer fern vom Gesicht aus der Bildoberfläche.

Frauentränen werden anhand des einen Frauenporträts und vier Readymades von 1850 verhandelt. Im Frauengesicht findet sich einerseits nur eine kleine, getrocknete Träne auf der Wange, angedeutet von einem weißen Rand in Tropfenform, andererseits scheint auf der Bildoberfläche eine Wasserbombe geplatzt zu sein. Rund um einen goldenen Punkt in der Nähe des Mundes breiten sich kreisförmig Spritzer übers ganze Bild aus. Die Gegenstände sind sogenannte Tränenfänger, kleine verzierte Glasröhrchen, in denen Frauen einst ihre Tränen auffingen, die sie um ihren Mann im Krieg zu vergießen hatten. Sie dienten ihm bei seiner Rückkehr zum Beweis ihrer Trauer. In der Galerie hängen sie in weißen Holzrahmen an der Wand.

Deutlich wird, dass das Weinen der Männer keinen wahren emotionalen Ausdruck erzeugt und Frauen von dieser Unfähigkeit negativ betroffen sind. Man könnte es so begreifen, dass Männer heute, da eine funktionierende Emotionalität den Wert ihrer Arbeitskraft steigert, von der alten Lüge eingeholt werden, sie seien reine Verstandeswesen. Das glauben sie seit der Neuzeit, in der die Rationalisierung des männlichen Subjekts begann. Darum unterscheiden sich Springers Porträts formal nicht, obwohl sie aus dem 16. sowie dem 21. Jahrhundert stammen. Die Geschichte der sich selbst belügenden Männer hält an, ein nicht unterdrückerisches Verhältnis zu ihren Gefühlen (und zu den Frauen) nahmen sie bisher nicht ein. Das verfälscht das Weinen.

In der Kunst des 19. Jahrhunderts, hatte sich der Bourgeois emotional trockengelegt

Die einzelne Frau in der Reihe macht darauf aufmerksam, dass als Ersatz für die emotionale Unzulänglichkeit der Männer die Frau entindividualisierend emotionalisiert wird. Diese Konstruktion zum Gefühlswesen erfolgte in der Kunst im 19. Jahrhundert, als der Bourgeois sich emotional trockenlegte und begann, weinende Frauen als unbewusste Heiltropfen für die eigene Gefühlsdürre aufgrund seiner kapitalistisch-rationalistisch erzwungenen Affektkontrolle zu malen.

Die Tränenfänger stehen für unbezahlte Gefühlsarbeit, die Frauen für Männer im Privaten leisten, und zeigen, wie Idealisierung und Unterdrückung zusammengehören. Sie stehen andererseits aber auch für die warenförmige Ordnung des männlichen Gefühlslebens. Emotionale Zuwendung kann er nur in der Form einer quantitativ überprüfbaren Menge wertschätzen – der kapitalistischen Entlohnung seiner Arbeitskraft entsprechend. Frauen leisten nach wie vor unbezahlte Gefühlsarbeit. Daran ändern auch stolze Männertränen nichts. Sie sind die neuen Lügen, damit Männer glauben können, sie unterdrückten ihre Gefühle und Frauen nicht, während sie beide lediglich als Schmiermittel ihrer totalen Ökonomisierung heranziehen. Auch der weinende Mann ist toxisch.

Ausstellung bis 25. 1., Galerie K’