Der Nussbraten

Weihnachten ohne Fisch, Fleisch, Geflügel und Käse. Das ist möglich, kann aber schwer im Magen liegen

Von Marco Carini

Kein Gänsebraten! Kein Karpfen! Keine Entenkeule! Nicht einmal Würstchen mit Kartoffelsalat. Seit einem Jahr war unsere Tochter – ich nenne sie hier Maike – Veganerin. Vergangenes Weihnachtsfest war sie noch vegetarisch unterwegs. Wir waren deshalb auf Raclette umgestiegen. Jede*r von uns vieren sollte so veggie essen, wie er oder sie wollte. Meine Frau Brigitte, unser elfjähriger Sohn Tibor und ich packten uns kleine Fleischhäppchen auf die Grillplatte, und Maike belegte in ihren Pfännchen bunt gemischte Gemüsestückchen mit Käsescheiben.

Doch Käse war nun auch tabu, und damit auch Raclette. „Ich koche vegan für euch“, hatte Maike verkündet. Maike hatte in ihrem ganzen Leben noch nie gekocht, jedenfalls nicht für uns. Brigitte, Tibor und ich wechselten fragende Blicke und unterdrückten dabei ein Achselzucken. Okay, Begeisterung sieht anders aus. Aber wir hatten auch keine Alternative anzubieten. Also: veganes Heiligabendmenü, kredenzt von der Tochter. Warum eigentlich nicht?

Schnell näherte sich der Heiligabend. Maike hatte, das Kochbuch vor der Nase, im Bioladen eingekauft. Während der Rest der Familie noch den Weihnachtsbaum schmückte, breitete Maike ihre Utensilien in der Küche aus. Hasel- und Walnüsse, Haferflocken, Cashewkerne, ein Paar Zwiebeln, Karotten, ein Glas Bio-Brühe und Büschel frischer Kräuter kamen zum Vorschein.

Maike begann mit den Vorbereitungen. Zwei Stunden Zeit, so hatte ihr das Kochbuch verraten, würde sie benötigen, um das, was auf dem Küchentisch ausgebreitet war, in einen Braten zu verwandeln. Doch diese Prognose galt für geübte Köchinnen. Maike aber war Debütantin. Hackbraten-Debütantin.

Wir hatten beschlossen, erst zu essen, dann zu bescheren. Spätestens um acht Uhr sollte es den Braten geben. Da rührte Maike die Bioladen-beute noch zu einem Bratenteig zusammen. Also schauten wir, Vater, Mutter, Sohn, einen Weihnachtsfilm. Brigitte und ich machten abwechselnd Ausflüge in die Küche, um Maike Hilfe anzubieten. Doch Maike wollte keine Hilfe. Das würde sie alleine schaffen.

Es war halb zehn und der quaderförmige Nussklotz befand sich zumindest schon mal im Ofen, den Maike leider vergessen hatte vorzuheizen. Aber wir hatten ja Zeit. Und durchaus etwas Hunger inzwischen. Die Schale mit dem Lebkuchen und den Weihnachtsplätzen blieb tabu. Wir durften uns ja nicht den Appetit verderben.

Inzwischen war es kurz nach zehn Uhr. Mein Magen knurrte. Tibor wollte endlich seine Geschenke. Brigitte war eingeschlafen. Ungewohnte Gerüche drangen aus der Küche ins Wohnzimmer. Kein Bratenduft, kein Rotkohl-Aroma. Stattdessen roch es nach gerösteten Mandeln, leicht süßlich, etwas zimtig, sehr undefinierbar.

Glitt da eine Träne über die Wange von Maike, die angespannt, ein wenig verzweifelt und vor allem komplett unansprechbar wirkte? Inzwischen war es elf Uhr. Noch immer lag nichts auf dem Teller und nichts unter dem Baum. Wir halfen Maike beim Aufdecken. Der Nussbraten sah noch immer nicht aus wie sein Hochglanzvorbild im Kochbuch. Brigitte meinte, er müsse dringend aus dem Ofen. Maike meinte, er sei noch nicht gar. Tibor wartete inzwischen mit Bauchschmerzen vor Hunger und einer vorpubertären Heiligabend-Depression auf.

Dann war es endlich so weit. Ich nahm den Braten aus dem Ofen. Er war schwer wie ein Pflasterstein. Er war hart wie ein Pflasterstein. Er war dunkel wie ein Pflasterstein. Wie würde er wohl schmecken?

Vielleicht war er doch ein wenig zu lang im Ofen geblieben. Jetzt, kurz nach Mitternacht, war der Hackbraten eine doch ziemlich zähe, sehr trockene Masse, die einem beim Kauen wie ein Schwamm den Speichel aus dem Gaumen saugte. Ein Bissen, drei Schlucke Wasser. Anders ging das nicht. Tibor, der sich ansonsten nur von Chicken Wings und Currywurst ernährt, biss mit Todesverachtung in seine Bratenscheibe.

Wir kauten und kauten. Maike sah uns erwartungsvoll an. „Wirklich lecker“, sagte Brigitte. „Doch, ganz vorzüglich“, assistierte ich. „Echt super“, ergänzte Tibor, der schon seit sechs Minuten seinen letzten Bissen zermahlte. Tibor liebt seine Schwester und ist bereit, für sie zu leiden.

Beste Zutaten. Ölige Nüsse. Etwas Gehaltvolleres hatte keiner von uns vieren je gegessen. Mehr als eine Scheibe pro Person war nicht drin. Drei Menschen träumten von krossem Geflügel und fluffigen Knödeln. Um halb eins waren wir fertig. Mit letzter Kraft brachten wir die Bescherung hinter uns. Und hörten noch ein wenig Weihnachtsmusik. An Schlafen war nicht zu denken. Zu schwer lag der Braten im Magen.

Inzwischen ist Maike nur noch Vegetarierin. Käse ist wieder erlaubt. Raclette ist wieder möglich. Heiligabend kann kommen. Den Gänsebraten für dieses Jahr, den habe ich schon bei Freunden verputzt.