berliner szenen
: Der Winter
zaubert im
Tiergarten

Mein Freund J. kann mit Bäumen sprechen. Er würde das bestreiten, aber ich kenne zumindest niemanden, der es besser kann. Wir haben uns zu einem Tiergarten-Spaziergang verabredet, um dort die Winterskulpturen der Bäume anzuschauen. Bald bleibt unser Blick jedoch statt in den Kronen an einem hüfthohen Maschendrahtzaun hängen. Er sieht mehr wie eine pragmatische Absperrung als wie eine atmosphärische Einfriedung aus, und doch ändert sich die säulengangartige, monumentale Parklandschaft hinter ihm in ein inselartiges Ensemble aus Gräsern, Sträuchern, Stauden, Dolden und anderen getrockneten Blütenständen, die auf einem sanft gewellten Boden wachsen.

Nicht ganz mittig leuchtet es purpurrot. Wir folgen dem Zaun verwundert. Finden ein Tor. Es lässt sich öffnen. Nur einen erkennbaren Weg gibt es nicht. Irgendwie unpreußisch: ein Tor, aber kein Weg, keine Parkordnung, keine Ge- und Verbote. Vorsichtig folgen wir unseren Sinnen. Bleiben immer wieder verzaubert stehen. Vor schwarzen Königskerzen, die wie Zypressen in der Toskana über die Landschaft wachen. Vor filigranen Bodenmosaiken aus bunten Blättern. Vor Moosfresken auf den Findlingen. Vor dem Purpurrot, das von tatsächlich noch blühenden Chrysanthemen kommt. Es ist, als wären wir in einem Gemälde unterwegs. Als würde die Erde im Winterschlaf träumen.

Ein Kardengewächs streckt uns sein blasslila Köpfchen entgegen. J. entdeckt eine winterblühende Heckenkirsche. Wir atmen ihren hypnotisierenden Duft ein. „Das ist eine Absperrung“, durchbricht plötzlich eine Stimme unsere Stille. Es war nicht die Heckenkirsche, die sprach. Es ist eine Dame mit zwei Pudeln – von der anderen Seite des Zauns. „Und das ist ein Tor“, sagt J. und zeigt darauf, „offen für alle“. Die Pudel nicken, ihre Herrin schließlich auch. Astrid Kaminski