Ich hat Angst

Dunkel, kalt und verzeichnet ist die Welt, die Regisseur Alexander Riemenschneider aus Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“ herausliest: In ihr herrschen Kälte und Schrecken

Das Casting ist fast zu naheliegend: Alexander Swoboda im Brauhaus Foto: Jörg Landsberg/Theater Bremen

Von Benno Schirrmeister

Sind finstere Zeiten. In Nachtschwarz ist die Brauhaus-Bühne gehüllt, mit funzeligem Licht macht David Hohmann ihre Dunkelheit noch dunkler. Kolorierte Wochenschaubilder zucken über die Wand aus wie Butzenscheiben gewölbten Glasquadraten, Meter mal Meter jedes, immer drei übereinander in einem Holzrahmen, verzerrte Filmaufnahmen also, aber erkennbar der Reichsparteitag: die optischen Effekte, die sich mit diesem Aufbau erzeugen lassen, die chaotischen Brechungen und die Verzeichnung der Gesichter wirkt bedrohlich. Und die hysterische Stimme aus dem Volksempfänger auch noch überdreht.

Aus der Schwärze stoßen immer wieder DarstellerInnen mit rauem Kreischen, wie im Hitchcock-Film, spitz, als hätten sie Schnäbel, immer einzeln, zu schnell um zu erkennen: war das jetzt jemand vom Moks-Ensemble, Meret Mundwiler oder Fabian Eyer, war es Judith Goldberg, oder war es Gast Philipp Kronenberg?

„Wie ein Raubvogel zieht die Schuld ihre Kreise“, heißt es im Roman „Jugend ohne Gott“, den der österreich-ungarische Autor Ödön von Horváth 1937 geschrieben hat: ein Zeitroman kurz vor dem Anschluss und in genauer Kenntnis der Zustände in Deutschland, wo er hauptsächlich gelebt hatte. Den einprägsamen, aber schwer zu deutenden Raubvogel-Vergleich hat Alexander Riemenschneider für seine beklemmende Inszenierung dieser messerscharfen Analyse des Lebens im Autoritären als Ausgangsbild gewählt. Im Zentrum von Buch und Dramatisierung steht ein Knabenschulenlehrer, nicht alt, nicht mehr jung, eben „nel mezzo del cammin“. Er ist lieb wie von Erich Kästner erfunden, nennt sich Ich und hat Angst: Ich hat Angst vor der Schuld, vor der Gegenwart, Angst davor, dass die Zukunft die Hölle wird, Angst, seine Pension zu verlieren, Angst vor der Schule, vor seinem Zimmer und davor, die Hausaufgaben seiner Schüler zu korrigieren. Klingt para, ist es aber nicht: Die Angst ist begründet.

Sobald der Lehrer bei der Rückgabe des Schulaufsatzes dem herausragend blöden Bäckermeistersohn N. wenigstens mündlich kritisches Feedback gibt und versucht, ihm zu erzählen, dass Schwarze doch auch Menschen sind, setzt die Repression ein. Greift ihn an. Versucht ihn zu zerschlagen, zu beseitigen, ihn und sein Gutmenschentum, würde man heute sagen. Humanitätsduselei ist das Wort der 1930er-Jahre. Es ist unnötig, den lakonischen Text näher an die Gegenwart anzuschmiegen, einen schön choreografierten Disco-Ausflug erlaubt Riemenschneider hier, mit rotem Licht und perfektem Lipsing von Fabian Eyer zu K-Pop, einen Suizid gibt’s schließlich am Ende auch, aber das war’s auch schon: Der Text lebt ohnehin noch, und auf der Bühne wirkt er stark.

Eine beklemmende Inszenierung dieser messerscharfen Analyse des Lebens im Autoritären

Das Casting ist dabei fast zu naheliegend. Niemand könnte diesen einfach netten, so menschlich feigen, moralisch fehlerhaften Typen – ein Spanner ist er auch! – besser auf die Bühne bringen als Alexander Swoboda. Er sitzt auf dem Sofa mit tumbem Savannen-Dekor – ach Afrika! – und macht dicke Backen. Er barmt über die Dummheit seiner Schüler, er hadert mit seiner eigenen Schissrigkeit und beklagt das Elend der Zeit: Swoboda gelingt es, dieses tiefe Gefühl verzweifelter Ohnmacht nicht nur darzustellen. Er spielt es in die Köpfe und Herzen hinein, verstärkt durch aufblitzende Komik, kokette Selbstironie, ja was bin ich für ein Versager!, das ist genau richtig temperiert.

Ihn umflattern die anderen als Schüler oder eher: als Gedanken an die Schüler. Hacken auf ihn ein, quälen ihn: Auch Erinnyen, die mythologischen Rachegöttinnen, haben Flügel. Während der Lehrer in Normalo-Klamotten durch die Welt schlurft, hat Emir Medić diesen Chor in schwarze Mattlederbeinkleider gehüllt, ihre Fingernägel schwarz lackiert und ihnen schwarze Flokati-Oberteile mit weitem Ausschnitt geschneidert, eine beängstigende Bande, rücksichtslos, mörderisch. Eiskalt. Was bleibt, ist, sich einen Gott zurechtzuglauben und die Ausreise an den exotischen Ort, wo noch Menschen leben. Eine Flucht, keine Lösung, nur ein Ende.

Wieder ab 17. 1. 20, 19 Uhr, Theater Bremen, Brauhaus