Hier hat es richtig geknallt

2019 wurde in Deutschland viel gestritten. Auch über Bildung. Die taz zeigt, welche Kontroversen rund um Kita, Schule und Uni dieses Jahr besonders heftig waren

Hey! Diese Schülerin kommuniziert auf emotionale Weise Foto: Veit Mette/laif

Februar: Muss das Bafög zum Leben reichen?

Der Auslöser: „Man muss ja nicht in die teuersten Städte gehen.“ Mit diesem Satz hat Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) im Februar die Kritik an ihrer Bafög-Reform zurückgewiesen – und sich bei vielen Studierenden unbeliebt gemacht. Die Mieten steigen und steigen und das Bafög reicht schon lange nicht mehr für ein Studium in München, Hamburg oder Heidelberg, sondern höchstens für Lippstadt oder Deggendorf. Karliczeks saloppe Empfehlung stieß deshalb auf breite Kritik: So warnte etwa der Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks Meyer auf der Heyde vor einer Verletzung der Chancengerechtigkeit. Außerdem sei die freie Berufswahl in Gefahr, wenn der Geldbeutel den Studienort bestimmt.

Darum geht’s: Die Bafög-Reform war eines der zentralen Versprechen aus dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD. Im Mai hat der Bundestag sie verabschiedet. Das Ziel: Es sollen wieder mehr Studierende Bafög erhalten – zuletzt war das nicht mal mehr jedeR Fünfte. Aus diesem Grund erhöhte Karliczek den Bafög-Höchstsatz von 735 auf 861 Euro. Auch das Wohngeld stieg deutlich – von 250 auf 325 Euro. Dennoch haben Bildungsforscher:innen Zweifel, dass die Bundesregierung mit der Reform die versprochene „Trendwende“ schafft.

Die Erhöhungen halten nicht mit den steigenden Lebenshaltungskosten Schritt. Die Folge: Diejenigen, die keine Unterstützung von zu Hause bekommen, müssen neben dem Studium jobben. Was heute schon zwei Drittel der Studierenden tun – Tendenz steigend. Von Chancengleichheit kann also keine Rede sein.

Aufreger-Faktor: zu Recht hoch. Wenn die Bildungsministerin es okay findet, dass nur Studierende mit reichen Eltern ihre Wunschuni besuchen können, läuft gehörig was falsch.

Ralf Pauli

Juli: Eine Kita ohne Schweinefleisch? O Gott!

Der Auslöser: Zwei Leipziger Kitas wollen beim Speiseplan auf zwei muslimische Mädchen Rücksicht nehmen und kündigen an, künftig auf Schweinefleisch und gelatinehaltige Produkte zu verzichten. Nachdem die Bild-Zeitung über die Speiseplanänderung berichtet, bricht ein Sturm der Empörung los. Vorne mit dabei: Die AfD, die von „kultureller Unterwerfung“ spricht. Aber auch Politiker:innen von CDU und CSU bezeichnen die Entscheidung als falsch.

Doch es bleibt nicht bei der Empörung: Der Kita-Leiter erhält Morddrohungen. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) reagiert darauf erschüttert und emotional. In einem Facebook-Post schreibt er: Der „Untergang des Abendlandes und Gefahr für unsere aufgeklärte Freiheit geht nicht von denen aus, die aus welchen Gründen auch immer eine andere Ernährungskultur haben, als es am tradierten deutschen Stammtisch üblich ist“, schreibt er, „sondern von denen, denen jeglicher moralische Kompass und der Anstand verloren gegangen ist.“

Darum geht’s: jedenfalls nicht ums Essen. Dass seit Jahren vegetarisches und auch veganes Essen an Kitas und Schulen im Trend ist, spielte in der Kon­troverse überhaupt keine Rolle. Ebenso wenig, dass der Verzicht auf Fleisch aus gesundheitlichen Gründen ausdrücklich empfohlen wird. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) etwa rät, Kinder sollten maximal zwei Mal in der Woche Fleisch essen. Offensichtlich halten die Kritiker:innen der Schweinefleisch freien Kita die Rücksichtnahme auf die religiöse Praxis von Muslimen für den Untergang des Abendlandes.

Aufreger-Faktor: extrem hoch. Und das ist leider nicht anders zu werten, als ein Beleg für die verbreiteten muslim- und menschenfeindlichen Einstellungen in der deutschen Gesellschaft. Ralf Pauli

August: Nur wer Deutsch spricht wird eingeschult?

Der Auslöser: Vielleicht lag es am Sommerloch, dass der CDU-Politiker Carsten Linnemann – ein Haushaltsexperte! – mit seinen Gedankenspielen zu den Sprachkenntnissen Sechsjähriger so viel Aufmerksamkeit erhielt. In einem Zeitungsinterview Anfang August warnte er vor „Parallelgesellschaften“ und forderte, Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse nicht einzuschulen. „Ein Kind, das kaum Deutsch spricht oder versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen“, so Linnemann wörtlich. Selbst Parteifreund:innen bezeichneten die Äußerungen als „populistischen Unfug“. Und auf Twitter erzählten Dutzende User, wie sie es auch ohne anfängliche Deutschkenntnisse zu was gebracht haben.

Darum geht’s: Linnemann hat auf ein durchaus ernstes Problem hingewiesen: Je nach Region liegt der Anteil der Vorschulkinder mit Sprachförderbedarf bei fast 40 Prozent. Das Problem dabei: Die 16 Bundesländer setzen insgesamt 21 zum Teil sehr verschiedene Tests ein. Eine bundesweite Aussage über die Sprachkenntnisse von Kindern lässt sich damit nicht treffen.

Gravierender als die empirischen Unzulänglichkeiten ist Linnemanns stereotype Gleichsetzung von Migration mit Leistungsdefiziten. Bildungsforscher:innen sind sich einig, dass Sprachdefizite bei Kindern vor allem mit der sozialen Schicht und der mangelnden Unterstützung durch die Eltern zu tun haben. Und das kommt schließlich bei „deutschen“ Familien genauso vor wie bei solchen mit ausländischen Wurzeln.

Aufreger-Faktor: hoch. Linnemanns Äußerungen berühren zwei wiederkehrende Kontroversen in der deutschen Bildungsdebatte: die Kritik (von rechts) an der angeblichen Integrationsverweigerung sowie die Kritik (von links) an dem segregierenden Schulsystem.

Ralf Pauli

Oktober: Wer macht eigentlich wann Ferien?

Der Auslöser: Als die Kultusminister:innen der Länder im Oktober zusammen kamen, wollten sie einen Konflikt lösen, der im Grunde seit 1964 besteht: die Frage, wann welches Bundesland in die Sommerferien darf. Ferienzeiten. Hamburg und Berlin haben eine Änderung der bestehenden Regelung beantragt, nach der alle Bundesländer Jahr für Jahr neue Ferienzeiten zugelost bekommen – mit Ausnahme von Bayern und Baden-Württemberg. Ab 2025 an sollen auch diese beiden Länder am Ferien-Roulette teilnehmen, das sei nur gerecht. Das Problem: Die Stadtstaaten aus dem Norden haben die Rechnung ohne die sturen Südländer gemacht. Bayern und Baden-Württemberg weigern sich, das Privileg der fixen Ferienzeiten abzugeben. Der Föderalismus sei gefährdet, entfuhr es dem Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller.

Darum geht’s: Die Bevorzugung Bayerns und Baden-Württembergs geht auf das „Hamburger Abkommen“ von 1964 zurück. Weil die Schulkinder bei der Ernte mithelfen müssten, setzten München und Stuttgart fixe und späte Ferienzeiten durch. Die Landwirtschaft spielt heute für die Haltung Bayerns keine Rolle mehr, dafür aber die Tradition. Die späte Ferienzeit bis in den September hinein sei heute Teil der bayerischen Identität, sagte CSU-Ministerpräsident Söder. Basta.

Die wechselnden Ferienzeiten sollen vor allem Staus auf den Autobahnen vorbeugen und für eine möglichst gleichmäßige Belegung von Hotels sorgen. Allerdings kann ein früher Ferienbeginn auch bis zu einem Monate weniger Unterricht bedeuten.

Aufreger-Faktor: wäre vielleicht nicht so hoch, wenn nicht ausgerechnet Bayern der Sturbock wäre. Da haben sie schon das beste Abi, und wollen auch den Sonnenplatz im Ferienkalender nicht teilen. Ralf Pauli

November: Sind Kopfnoten zeitgemäß?

Der Auslöser: „Der Sächsische Lehrerverband spricht sich klar für die Beibehaltung der Vergabe der Noten in Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung („Kopfnoten“) an den sächsischen Schulen aus.“ So steht es im Petitionstext von Anfang November. Knapp 6.000 Menschen haben bisher dafür unterschrieben, bei 12.000 digitalen Signaturen muss sich der Petitionsausschuss des Landtags damit beschäftigen. Kopfnoten sind inzwischen in vielen Bundesländern abgeschafft, in Sachsen stehen sie noch von der zweiten bis zur zehnten Klasse auf den Zeugnissen.

Darum geht’s: In Sachsen beschäftigen die Kopfnoten immer wieder die Gerichte – weil das sächsische Schulgesetz Fleiß-Noten eigentlich gar nicht vorsieht, es fehlt also schlicht die Rechtsgrundlage. 2018 hatte deshalb ein Schüler vor dem Verwaltungsgericht gegen Kopfnoten auf seinem Abschlusszeugnis geklagt, weil sie ihm – sinngemäß – die Zukunft zumindest erschwerten. Der Schüler bekam Recht, allerdings kassierte das Oberverwaltungsgericht die Entscheidung. In diesem Jahr wiederholte sich die Geschichte: Wieder gab das Verwaltungsgericht einem klagenden Schüler Recht, allerdings geht das CDU-geführte Kultusministerium gegen diese Entscheidung vor. Um den juristischen Hickhack zu beenden, will der Lehrerverband jetzt die Rechtsgrundlage, also das Schulgesetz, ändern.

Das wiederum ist natürlich eine politische Entscheidung. Und mit den Grünen und Linken in der seit Dezember am Ruder befindlichen Kenia-Koalition in Sachsen kaum vorstellbar.

Aufreger-Faktor: eigentlich noch nicht hoch genug. Kinder dürfen heute offenbar immer noch mit einem undifferenzierten „Mangelhaft“ als faul abgestempelt werden, und das auch noch ohne die entsprechende Rechtsgrundlage.

Anna Klöpper

Dezember: Pisa schockt noch immer

Der Auslöser: An schlechte Pisa-Ergebnisse hat man sich beinahe gewöhnt, doch die jüngste Studie von Anfang Dezember versetzte doch alle einigermaßen in Alarmbereitschaft. „Mittelmaß kann nicht unser Anspruch sein“, sagte Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU). Und tatsächlich ist das noch ein milde Schlussfolgerung angesichts von Leseleistungen, die noch mal schlechter als vor vier Jahren ausfielen. Auch in Mathe und Naturwissenschaften: keine Verbesserung. Und die eigentlich schmerzhafte Erkenntnis: Die Schere zwischen denen, die von zu Hause aus alle Chancen mitbekommen und denen, die dieses Glück eben nicht haben – sie wird nicht kleiner, sondern größer.

Darum geht’s: Die Schere im deutschen Bildungssystem wird größer, entgegen aller Bemühungen der Politik. Woran liegt’s? Natürlich auch daran, sagen ExpertInnen, das unser Schulsystem mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht eine grundsätzliche Ungerechtigkeit auffangen kann. Nämlich die, dass das Elternhaus wesentlichen Anteil daran hat, ob jemand schon seinen Namen schreiben kann, wenn er in der ersten Klasse sitzt, oder nicht.

Und dann kommt natürlich noch die Tatsache hinzu, dass bildungsorientierte Eltern darauf achten, dass ihr Sprössling auch dort zur Schule geht, wo bereits andere Kinder in der ersten Klasse ihren Namen schon schön schreiben können.

Wollte man diese Ungerechtigkeit ausgleichen, müsste es eine Schule für alle geben. Dass Skandinavien damit gute Erfahrungen macht, weiß man seit der ersten Pisa-Studie vor fast 20 Jahren.

Aufreger-Faktor: Die Analysen zu Pisa verlaufen seit Jahren entlang der bekannten Diskussionslinien. Aber das heißt nicht, dass man müde werden darf. Anna Klöpper