Leuchtende Jahre in Elektropolis

Der Bildband „Unter Strom. Berlin auf dem Weg zur Metropole“ dokumentiert den Aufschwung von der Haupt- zur Weltstadt

Von Gloria Reményi

„Die Intensität einer Weltstadt kann gemessen werden an der Intensität ihres nächtlichen Lichtbildes. Wo nachts keine Lichter brennen, ist finsterste Provinz.“ Mit diesen schwärmerischen Worten äußerte sich der Architekt und Architekturtheoretiker Hugo Häring im Jahr 1928 über den Einsatz künstlicher Beleuchtung in der deutschen Hauptstadt. Zu der Zeit waren Klimawandel und Lichtverschmutzung noch keine gängigen Begriffe und künstliches Licht galt einzig als Sinnbild für Fortschritt und Urbanität.

Zu lesen ist Härings prägnantes Zitat nun in der Einleitung zum Bildband „Unter Strom. Berlin auf dem Weg zur Metropole“, der dieses Jahr bei der Edition Braus erschienen ist. Darin rekonstruieren die Kunsthistorikerin Dorothee Haffner von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und die stellvertretende Leiterin der bpk-Bildagentur Christina Stehr den Aufstieg der Reichshauptstadt zur modernen Metropole durch die Ansiedlung der Elektroindustrie ab Ende des 19. Jahrhunderts.

Das Buch legt den Fokus auf die Vielfalt der Bereiche des Lebens in der Großstadt, die durch die Stromversorgung revolutioniert wurden. Jede von der neuen Technik ermöglichte Innovation – von der Beleuchtung des öffentlichen Raums über den elektrischen Transport hin bis zur Entstehung neuer Berufsfelder und Produkte – wird in einem entsprechenden Kapitel behandelt. So werden auch die über 150 im Band versammelten und größtenteils von der bpk-Bildagentur stammenden Fotografien – darunter Stadtansichten, Architekturfotos sowie Aufnahmen von Alltagsszenen und Reklamen – streng thematisch eingeteilt und mit einführenden Texten versehen.

Im Band zu finden sind zum Beispiel Bilder, die die Wartung von Straßenlaternen am Anfang des 20. Jahrhunderts zeigen, Fotos von Hochbahn- und U-Bahn-Baustellen sowie die Aufnahme eines besonders spektakulären Hochbahnunglücks im Jahr 1908 am Gleisdreieck. Ein ganzes Kapitel ist den neuen, durch die Elektrifizierung entstandenen Tätigkeitsfeldern für Frauen gewidmet, denn Ende der zwanziger Jahre waren in Berlin knapp 42 Prozent aller Frauen erwerbstätig – deutlich mehr als im restlichen Deutschland. Die Fotos zeigen Frauen beim Arbeiten in der Spulenwicklerei einer Zählerfabrik, in der Buchhaltung beim Postscheckamt oder in der telefonischen Annahme von Telegrammen.

Enormen Aufschwung durch die Elektrizität nahm auch die Unterhaltungskultur. So entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts viele Kinos in Berlin, die elektrisches Projektionslicht benutzten – woraus sich der Begriff des „Lichtspieltheaters“ entwickelte. Auf Aufnahmen von damals wird deutlich, wie Licht als zentrales Gestaltungselement eingesetzt wurde – nicht nur bei Kinos; auch Cafés, Bars und Theaterhäuser trugen auffällig beleuchtete Schriftzüge.

In Zeiten des voranschreitenden Klimawandels und der zunehmenden Lichtverschmutzung durch Großstädte wirkt diese Lichtinszenierung, die zum pulsierenden Image des Berlins der Goldenen Zwanziger erheblich beitrug, mindestens anachronistisch. Und doch finden in Berlin jährlich immer noch zwei Lichtfestivals statt. Diese scheinen sogar direkt an das Konzept einer „Berlin im Licht“ betitelten Werbewoche der Elektroindustrie anzuknüpfen, die 1928 veranstaltet wurde und für die Bertolt Brecht und Kurt Weill eigens einen Song schrieben.

Der Bildband von Haffner und Stehr gibt nicht nur Gelegenheit, die vielen Facetten des rasanten Wachstums der Elektropolis Berlin neu zu entdecken, sondern auch den Anstoß, deren Erbe in der heutigen Stadt aufzuspüren.

Dem Buch ist in seiner strengen Struktur zwar ein fast didaktischer Ansatz anzumerken, doch wer auf der Suche nach einer besonders einprägsamen und detailreichen Abhandlung des Aufschwungs Berlins während der Zweiten Industriellen Revolution ist, wird mit „Unter Strom“ bestens bedient.

„Unter Strom. Berlin auf dem Weg zur Metropole“, Hrsg. von Dorothee Haffner und Christina Stehr, Edition Braus, Berlin 2019, 24,95 Euro