heute in hamburg: „Der soziale Tod ist schlimmer“
Vortrag „Leben auf der Straße: Alltag voller Gefahren“ im Rahmen der Hamburger Dialoge über Obdachlosigkeit: 19 Uhr, Gemeindesaal Kirche St. Pauli, Antonistraße 12, Eintritt frei
Interview Nils Erich
taz: Frau Groth, waren Sie selbst schon mal „auf Platte“?
Susanne Groth: Ja, ich begleite täglich Obdachlose, hauptsächlich auf der Reeperbahn. Ich würde sagen, 80 Prozent der Obdachlosen auf der Reeperbahn kenne ich persönlich.
Welchen Gefahren sind Obdachlose auf der Straße ausgesetzt?
Die Obdachlosen sind nicht nur dem Wetter, Kälte und Nässe, schutzlos ausgeliefert, sondern es gibt ja auch körperliche Angriffe, Diebstähle, Körperverletzungen. Obdachlose werden verprügelt, getreten, auf sie wird uriniert. Im schlimmsten Fall werden ihre Schlafsäcke angezündet. Wenn Obdachlose ins Krankenhaus kommen, werden sie entlassen, sobald keine Lebensgefahr besteht. Bei den Menschen, die es am Nötigsten hätten, die noch sehr krank auf die Straße entlassen werden, ist eine Heilung kaum möglich. Das ist etwas, das mich wütend macht.
Wie ist die Situation für Obdachlose im Winter?
Katastrophal. Es gibt ja ein Winternotprogramm, das nicht gern angenommen wird von den Obdachlosen, außer in Extremsituationen. Es gibt viele Gründe, das größte Argument aber ist: Ich lasse mich nicht wie Vieh behandeln. Denn das Programm ist geöffnet von 17 bis 9.30 Uhr morgens, dann müssen alle Obdachlosen die Unterkunft verlassen, egal ob sie krank sind oder nicht.
Wie ist Hamburg für Obdachlose?
Hamburg gehört noch zu den Städten, die Obdachlosen am meisten bietet. Das liegt aber daran, dass es ganz viele ehrenamtlich betriebene Tagesstätten oder Vereinigungen gibt, die sich kümmern.
Susanne Groth, 56, ist Autorin und hat den Verein „Leben im Abseits“ gegründet, der sich für Obdachlose engagiert.
Was fordern Sie politisch?
In Berlin oder in Finnland gibt es Programme, die verfolgen einen Ansatz namens „Housing First“: Obdachlose Menschen bekommen eine Wohnung, ohne dass es heißt, du musst erst trocken sein oder so was. Obdachlose können erst mal zur Ruhe kommen. Erst dann kann man sortieren und anfangen zu sagen: Was will ich eigentlich. Will ich einen Entzug machen oder meine Schulden begleichen.
Was können wir alle tun?
Hinschauen, lächeln, hallo sagen. Ich habe das von allen Obdachlosen immer wieder gehört: Der soziale Tod ist schlimmer als die Obdachlosigkeit. Man fühlt sich wertlos, schämt sich. Leute spucken, pöbeln. Auch wenn man kein Geld geben möchte, kann man fragen: Was kann ich dir Gutes tun? Wenn man sieht, da geht es jemandem nicht gut, lieber einmal mehr den Notruf wählen. Besser das, als zu hören, da ist jemand erfroren.
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