Die Komödie „Die Wache“ kommt ins Kino: Im Traum auf der Wache
Die Komödie „Die Wache“ von Quentin Dupieux faltet eine Verhörsituation ins Aberwitzige um. An der Oberfläche erscheint alles realistisch.
Louis Fugain (Grégoire Ludig) ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Es ist Nacht und vor dem Hochhaus, in dem er lebt, liegt eine Leiche. Es handelt sich, wie es aussieht, um Mord. Fugain ruft die Polizei, sie lädt ihn zum Verhör aufs Revier. Schnell zeigt sich, dass ihn der ermittelnde Kommissar Buron (Benoît Poelvoorde) mangels Alternativen für den Hauptverdächtigen hält.
Das Revier befindet sich in einem brutalistischen Bau mit niedrigen Decken und viel nackter Wand, auch am Sockel des auf Stelzen stehenden Hauses von Louis wölbt sich wulstig Beton. Das Detail ist nicht weiter wichtig, außer dass man in einem Film von Quentin Dupieux nie so genau sagen kann, was die wichtigen Dinge sind, was die Nebensachen, auch nicht, was straight und was meta, da man ja in der Regel nicht einmal weiß, was das Ganze überhaupt soll.
Nehmen wir „Rubber“, den Film, mit dem Dupieux 2010 international das erste Mal so richtig auffällig wurde. Er erzählte die Geschichte eines Autoreifens, der zum Leben erwacht und per telekinetischer Kraft die Köpfe von Männern und Frauen, die ihm im Weg sind, zum Platzen bringt. Er erzählte die Geschichte allerdings so, dass er gleich zu Beginn mitten in der Wüste eine Gruppe von Zuschauer*innen installiert, die durch ihre Ferngläser den Reifen-Splatter als den Film sehen, den wir auch sehen.
Allerdings werden diese Zuschauer*innen dann bis auf einen durch einen Truthahn vergiftet. Noch davor hat uns der später ermittelnde Sheriff erklärt, dass alle bedeutenden Werke des Kinos ein wesentliches Element in sich tragen: Es gebe „keinen Grund“ für das, was geschieht. Nur wird im Lauf der Aufzählung von „E.T.“ bis „Der Pianist“ auch diese Behauptung wieder ad absurdum geführt. Im Abspann wird die Abhandlung, nun aus anderer Perspektive, nichtsdestotrotz wiederholt.
Oder nehmen wir „Realité“ von 2014, Dupieux’ bislang komplexesten Film. Ein Mädchen namens Realité findet eine Videokassette im Bauch eines Wildschweins. Ein Regisseur sucht nach einem möglichst grässlichen Schrei. Der Moderator einer Kochshow hat Ekzeme, die nur Einbildung sind.
Slapstick und intellektuelles Vergnügen zugleich
Diese Geschichten beginnen sich ineinander zu schieben, zu doppeln, zu spiegeln. Einer träumt, es ist aber wirklich; oder nur die Wirklichkeit eines anderen Traums, aus dem jemand anderes erwacht, und zwar in noch jemand anderes Film. Dupieux ist hier auf den Spuren von Borges oder Escher oder César Aira oder auch Philip K. Dick, aber es ist komischer als bei allen zusammen und wundersamerweise folgt man den Irrwegen gerne. Die Filme von Dupieux sind Slapstick und intellektuelles Vergnügen zugleich. Sie kitzeln im Kopf.
„Die Wache“. Regie: Quentin Dupieux. Mit Benoît Poelvoorde, Grégoire Ludig u. a. Frankreich 2018, 73 Min.
Das funktioniert, denn sie biegen immer rechtzeitig ab oder kehren rechtzeitig um, bevor sich der Weg im Beliebigen oder Ungefähren verliert. Dupieux hat einen eminenten Sinn für immer nur auf Zeit in Geltung gesetzte Binnenlogiken, aber auch für Timing: Die Frage, wie sich das Unverbundene diesmal verbindet, wie und wann genau das Wirkliche ins Unwirkliche, das Unwirkliche ins Wirkliche kippt, erzeugt immer wieder ihre eigene Spannung.
Vielleicht hat Dupieux’ Rhythmusgefühl mit seiner anderen Karriere zu tun. Denn bevor er als Filmregisseur reüssierte, hatte er als Musiker unter dem Künstlernamen Mr. Oizo schon großen Erfolg. Sein repetitiver Synthesizer-Loop-Track „Flat Beat“ war ein Riesenhit. Für die eigenen Tracks, für seinen Freund Laurent Garnier und andere hat er dann tolle Musikvideos gemacht. Im berühmtesten, „Nightmare Sandwiches“, verwandelt sich eine Toilette unversehens in einen Plattenspieler.
Mr.-Oizo-Soundtracks begleiten die Bilder
So begann seine Karriere beim Film, bei dem er sich aber alle Freiheiten des Musikvideoregisseurs nimmt, nur dass nun nicht mehr die Bilder die Musik, sondern die weiterhin sehr wiederholungsschleifenfreudigen Mr.-Oizo-Soundtracks die Bilder begleiten.
Ein Detail beim Verhör, das den größten Teil von „Die Wache“ ausmacht, irritiert gleich zu Beginn. Dem anderen Polizisten im Raum, Philippe, er ist zunächst mit Papierkram befasst, fehlt ein Auge. Genauer gesagt ist da, wo das linke Auge sein sollte, eine digital applizierte verschwommene Fläche. Louis kommentiert das, „Geburtsfehler“, wird erklärt, damit ist gut, der Kommissar setzt die Befragung des Verdächtigen fort.
Mal stockt das Verhör, mal verstricken sich Louis, nicht aus der Ruhe zu bringen, und der Kommissar, seinem inneren Bluthund auf der Spur, in völlig nebensächliche Dinge, Letzterer versucht den Verdächtigen beim Widerspruch zu ertappen. Es wird Krimikomödie gespielt, die Struktur ist robust, nur ab und zu ein kleiner Pas de deux ins Absurde oder es ergibt sich an unerwarteter Stelle ein kleines Loch. Wie beim Kommissar, wenn er raucht.
Astreiner Boulevard
„Die Wache“ ist ein sehr dialoglastiger Film, fast theaterstückhaft. Als Theaterstück: astreiner Boulevard, der Witz mit der Figur, die jeden Satz mit „sozusagen“ beendet, wird zu Tode geritten. Und ersteht in einer anderen Figur wieder auf. Als auch vor Ort, beim Verhör, ein tödliches Unglück geschieht, verschwindet eine Leiche im Schrank und aus der Angst vor Entdeckung zieht Dupieux einige Komik.
Es geht fast in Echtzeit voran, beinahe bleibt sogar die klassische Einheit von Raum, Zeit und Handlung gewahrt. Aber wirklich nur beinahe, die Faltung von Handlung, Zeit, Raum geht hier nur subtiler als in anderen Filmen des Regisseurs vonstatten. Einerseits im Innern der Flashbacks, als Louis’ Schilderungen der Leichenfundnacht vor Augen gestellt werden. Minutiös wird der keineswegs sonderlich aufregende Hergang rekonstruiert. Bis dann plötzlich eine Figur, die beim Verhör schon hereingeschneit ist, auch in die Erinnerungen schneit, in die sie weiß Gott nicht gehört.
Weiter hinten im Film passieren auch mit der Vierten Wand seltsame Dinge. Der bisherige Film als Traum, aus dem alle erwachen. Nur ist es, wie es immer ist bei Dupieux: Es gibt kein finales Erwachen. Wachen ist immer nur Traum im Traum, und außerdem schaut, ob man es weiß oder nicht, immer irgendwo jemand zu.
Erzählerische Origami-Strukturen
Was in diesen ständigen Faltungen entsteht, ist, gefühlt, nicht unbedingt Tiefe. Die existenzielle Dimension wird selten überbetont. Die Abwesenheit, das immer weitere Aufschieben eines finalen Realen könnte Terror bedeuten, behält durch Dupieux’ Lust am Komischen des Absurden aber ein spielerisches Element. Man stürzt in seinen komplizierten narrativen Arrangements nicht in Abgründe, auch wenn ein sehr blutiges Grand-Guignol-Moment selten fehlt. Eher taumelt man von einer Oberfläche zur nächsten, von Falte zu Falte in erzählerischen Origami-Strukturen.
Man kann surreal dazu sagen, solange man den eigentlichen Punkt nicht übersieht: Das alles ist, so wenig es auch danach klingt, im Modus des Realismus erzählt. Die Figuren wähnen sich nicht im Traum, sondern bewegen sich, mal mehr, mal minder verwirrt, durch Szenarien, die sie für Wirklichkeit halten.
Dupieux sperrt sich gegen das Einsortieren in fantastische Genres. Er nimmt sich vielmehr mit großer Selbstverständlichkeit die Freiheiten, die das Erzählen grundsätzlich bietet. Jede erzählte Wirklichkeit ist erst einmal Setzung, die sich der Kontrolle durch die Gesetze des Realen entzieht. Dupieux' Erzählen ist in diesem Sinn fortgesetzter Entzug. Dieser Entzug aber als einzige Lust. Und auch nach dem Abspann, dies nur als Tipp, ist noch lange nicht Schluss.
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