Was die Menschen erreicht und verändert

Die Schau „exp. 2“ im ExRotaprint bringt die brasilianische Künstlerin Virginia de Medeiros und die „Feministische Gesundheitsrecherchegruppe“ aus Berlin zusammen. Es geht um Sorgearbeit, Sexualpolitik und Selbstbestimmung

Archiv der alternativen Gesundheitsbewegung, Installationsansicht exp. 2: Virginia de Medeiros – Feministische Gesundheitsrecherchegruppe, Vorschau 11. Berlin Biennale Foto: Nicole Tanzini di Bella

Von Kirsten Achtelik

Schon der Standort ist ein Statement. Die drei experimentellen Vor­ausstellungen zur 11. Berlin Biennale finden im Wedding statt – auf dem Gelände des ehemaligen Produktionsgeländes der Druckmaschinenfabrik Rotaprint. Eine gemeinnützige GmbH hat das 10.000 qm große Gelände mit einer Mischung aus Gewerbebetrieben, sozialen Einrichtungen und Kunst dem Immobilienmarkt entzogen. Dafür erhielt die ExRotaprint gGmbH im Dezember zusammen mit drei anderen Projekten den Berliner Denkmalpreis. Hier also wurde in der vergangenen Woche die Ausstellung „exp. 2“ eröffnet, für die sich die brasilianische Künstlerin Virginia de Medeiros und die „Feministische Gesundheitsrecherchegruppe“ aus Berlin die Räume teilen.

Eine Bücherwand im ersten Raum, Kekse und eine Kinderspielecke im zweiten, im dritten, abgedunkelten dann ein Film. Hier geht es um Körperlichkeit, Sexualität und kollaborative Prozesse. Die Atmosphäre ist angenehm, alle reden miteinander in mindestens vier verschiedenen Sprachen.

Der erste Raum wird von der „Feministischen Gesundheitsrecherchegruppe“ bespielt: Interviews mit Aktivist*innen der alternativen Gesundheitsbewegung hängen auf Deutsch und Englisch an Stellwänden, daneben Archivmaterialien wie alte Ausgaben der „Doktorspiele“, der Zeitung des Kreuzberger HeileHauses, oder des Info­dienstes der Berliner Gesundheitsläden. Ikonische Symbole wie das mit den Händen geformte Vulvadreieck, ein ausgeschnittenes goldenes Spekulum oder ein Venussymbol als Uhr ergänzen die Artefakte.

Eine ganze Wand nimmt ein Bücherregal ein. Klassiker der Frauengesundheitsbewegung wie „Our bodies, our selves“ der späten 1960er Jahre stehen hier neben dem Reader „In unseren eigenen Worten“ mit Texten von geflüchteten Frauen in Deutschland, erschienen 2015. Alles soll angefasst, gelesen, diskutiert werden können. „Kunst zum Benutzen“ hätten sie auf einem Formular zur Ausstellungsvorbereitung ankreuzen müssen – für die Versicherung, erzählt Julia Bonn von der Recherchegruppe. Der Eindruck, mit kleinen Kindern sei es eigentlich unmöglich, Kunst zu machen und sich im Kulturbetrieb zu behaupten, hat die Gruppe 2015 zusammengebracht.

Damals waren es zwölf Kultur­arbeiter*innen aus verschiedenen Ländern Europas, die die ­Recherchegruppe in zwei längeren Treffen in Berlin gründeten und die Recherche zu selbstermächtigenden Praxen der Gesundheitssorge begannen. 2016 entstand daraus eine Gruppe von drei Müttern kleiner Kinder, die sich abwechselnd in den jeweiligen Berliner Küchen trafen.

Die in der Kulturarbeit üblichen Standards nicht einhalten zu können und sich trotzdem zu erlauben, Kunst zu machen, Gedanken zu formulieren und diese öffentlich und kollektiv zu äußern, sei ein wertvoller Prozess gewesen. Wie künstlerische Räume geöffnet werden können, war denn auch eine zentrale Frage für diese Ausstellung. Die Räume sind ebenerdig und barrierefrei, die Vernissage findet am Spätnachmittag statt, nicht abends. Zwar gibt es auf der Vernissage auch Wein, aber eben auch Kekse und Milch. Die Spielecke ist tatsächlich gut besucht.

Die Verbindung mit Menschen, die besonders verletzlich sind, ist zentral für Virginia de Medeiros

Auch die vier aus Südamerika stammenden Biennale-Kura­tor*innen María Berríos, Renata Cervetto, Lisette Lagnado und Agustín Pérez Rubio betonen, wie wichtig ihnen die Verbindung zwischen Kunst und Gesellschaft sowie das Prozesshafte der aktuellen Biennale sind. María Berríos fragt mich, warum reproduktive Arbeiten wie die Versorgung von Kindern immer nur als zusätzlicher Service gelten würden statt als relevanter und wichtiger Teil der Kunst selbst. Die Biennale, die offiziell erst im Juni 2020 beginnt, solle dies ändern. Die angestrebte Vernetzung zielt eben nicht nur auf transnationale Künstler*innen, sie soll sich vielmehr auf die Nachbarschaft und die Gemeinschaften vor Ort ausdehnen. Dazu gibt es im Rahmen der Ausstellung mehrere Workshops, gratis und explizit für Kinder.

Der dritte Raum ist noch relativ leer, auf einer Leinwand läuft in Dauerschleife der Film „Trem em Transe“ (Zug in Trance). An der Wand hängt ein Foto mit einer Referenz auf die im März 2018 ermordete linke schwarze und lesbische Stadträtin in Rio de Janeiro, Marielle Franco. Der Film lässt mehr aus als, er offensichtlich zeigt: Der predigende Mann ist eine trans Frau, die Predigt mutet christlich-evangelikal an und enthält doch Spuren von Candomblé, einer afro-brasilianischen Religion, die sich als Widerstand gegen die Sklaverei geformt hat.

Jener Raum im ExRotaprint soll Startpunkt der dreimonatigen Residency der brasilianischen Künstlerin Virginia de Medeiros in Berlin sein. Die Auseinandersetzung mit Religion als Befreiungs- oder Unterdrückungsinstrument und die Verbindung mit Menschen, die besonders verletzlich sind wie alleinerziehende Mütter, Sex­arbeiter*innen oder Transgender sind zentral in der Arbeit von Virginia de Medeiros, erklärt die Kuratorin Lisette Lagnado, die selbst zuletzt in Rio gelebt hat. Kunst sei schließlich nicht Ästhetik, sondern die Frage danach, was die Menschen erreicht und verändert. In diesem Sinne haben die Feministische Recherchegruppe, de Medeiros und die Kurator*innen ein gemeinsames Ziel: Menschen für emanzipatorische Prozesse zusammenzubringen. Ein Vorhaben, das auch die kommende Berlin Biennale bestimmen dürfte.

exp. 2: Virginia de Medeiros – Feministische Gesundheits­recherchegruppe, ExRotaprint, Bornemannstr. 9, Do.–Sa. 14–19 Uhr, bis 8. Februar 2020