„Deine Wahr-nehmung stimmt“

Mithu M. Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin und erklärt, welche Vorstellung wir von Opfern und Tätern haben und was daraus folgt

„Ein aus­bleibender Schuldspruch heißt aber nicht, dass es keine Vergewaltigung war“, sagt Mithu M. Sanyal Foto: Amélie Losier

Interview Patricia Hecht

taz am wochenende: Frau Sanyal, was ist eine Vergewaltigung?

Mithu Sanyal: Für mich ist eine Vergewaltigung der Vollzug sexueller Akte gegen den Willen einer Person.

Sieht das deutsche Strafrecht das auch so?

Man muss unterscheiden, was juristisch als Vergewaltigung gilt und was es individuell für Menschen heißt. Individuell würde ich jeder Person sagen: Deine Wahrnehmung stimmt. Aber für eine Gerichtsverhandlung braucht es objektivierbare Kriterien. Im deutschen Gesetz heißt es also: gegen ihren „expliziten“ Willen, was juristisch nachvollziehbar ist. Aber natürlich gibt es sehr viele Situationen, in denen Menschen zum Beispiel aus Angst ihren Willen nicht ausdrücken konnten, sich aber trotzdem vergewaltigt fühlen. Ernst nehmen muss man das genauso.

Seit wann werden Vergewaltigungen in Deutschland als Verbrechen anerkannt?

Die Straftat Vergewaltigung findet man schon bei Karl dem Großen um 800. Aber da geht es um den „Ehrenraub“ – nur Frauen konnten nach damaligem Rechtsverständnis vergewaltigt werden, weil nur bei ihnen die Ehre als Teil ihres Körpers betrachtet wurde. Je adliger, desto mehr Ehre. Deshalb galt lange, dass man Sexarbeiterinnen gar nicht vergewaltigen konnte.

Und heute?

Mit der Gesetzesänderung von 1974 taucht zum ersten Mal überhaupt der Gedanke der sexuellen Selbstbestimmung auf. Vorher war das Sexualstrafrecht zum Schutz von Ehe und Familie gedacht, das heißt, es ging um den Schutz der „richtigen“ Sexualität. Ein Mann durfte also nicht mit der Frau eines anderen Mannes schlafen, damit dessen Ehe nicht gefährdet wird.

Geht Vergewaltigung mit Penetration einher?

In Deutschland galt bis 1997, in der Schweiz bis heute: Ein Penis muss eine Vagina penetrieren, sonst ist es keine Vergewaltigung. In Deutschland geht es seit 1997 nicht mehr nur um Penetration, auch vergleichbare sexuelle Akte wie Oral- oder Analverkehr sind strafrechtlich relevant. Seitdem ist außerdem Vergewaltigung in der Ehe Straftatbestand. Und erst seit 1997 können de jure auch Männer vergewaltigt werden und auch Frauen vergewaltigen. Das war ein enormer Schritt.

Was hat sich mit der Aufnahme von „Nein heißt Nein“ 2016 ins Strafrecht verändert?

Um „Nein heißt Nein“ haben Feministinnen sehr lange gekämpft: Bis dahin musste sich das Opfer tätlich gewehrt oder der Täter Gewalt ausgeübt haben. Heute reicht ein „explizites Nein“, was auch dadurch passieren kann, dass das Opfer weint. Das geht vielen nicht weit genug. Manche fordern „Ja heißt Ja“.

Aber?

Ein weiteres Problem ist, dass wir diese ganzen sexuellen Geschlechterrollen im Kopf haben: Wer muss sich erkundigen? Der Mann. Wer muss zustimmen? Die Frau. Das ist keine selbstbestimmte Sexualität.

Wenn eine Frau nun beispielsweise vor einer Vergewaltigung den späteren Täter küsst – kann ihr das juristisch zum Nachteil werden?

Vor Gericht wird das manchmal so gewertet. Es ist aber falsch: Am Küssen kann man noch nicht ablesen, ob alles weitere auf Gegenseitigkeit beruht. Sexualität beruht auf Gegenseitigkeit. Vergewaltigung beinhaltet keine Gegenseitigkeit mehr.

Welche Rolle spielt das Verhalten des Opfers?

Wir haben noch immer eine Vorstellung davon, wie ein Opfer zu sein hat. Zum Beispiel werden Menschen, die zu gefasst sind, weniger ernst genommen. Es gibt auch die Vorstellung, dass nur schöne junge Menschen vergewaltigt werden. Übergewichtigen wird zum Beispiel weniger geglaubt. Und natürlich wird männlichen Opfern signifikant weniger geglaubt.

Hat Vergewaltigung etwas mit Sex zu tun?

Foto: privat

Mithu M. Sanyal

48, ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und schreibt Kolumnen für die taz. 2016 erschien ihr Buch „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“.

Feministinnen sagen, dass es bei Vergewaltigungen nicht um Sex, sondern um Macht geht. Das hat viel damit zu tun, dass die Frauenbewegung heftig dagegen kämpfen musste, dass die sexuelle Vergangenheit der Opfer in den Gerichtsverfahren thematisiert wurde. Für die Opfer geht es nicht um Sex. Aber auf Seiten der Täter ist es ein Spektrum.

Sind Gerichtsverfahren ein angemessenes Instrument, um Vergewaltigungen aufzuarbeiten?

Opfer müssen sich frei dafür oder dagegen entscheiden können, anzuzeigen. Oft heißt es, du musst anzeigen, weil der Täter sonst möglicherweise seine Tat wiederholt. Aber das kann nicht in der Verantwortung des Opfers liegen. Zudem kommt es nicht immer zu einer Verurteilung. Ein ausbleibender Schuldspruch heißt aber nicht, dass es keine Vergewaltigung war. Und schließlich sind die Verfahren oft retraumatisierend. Andererseits sind sie für manche Opfer wichtig, damit eine höhere Instanz bestätigt: Das war Unrecht. Und in Fällen, in denen es wirklich gut läuft, bekommt der Täter eine Möglichkeit, sich zu entschuldigen, und nutzt sie auch.

Welchen Blick haben wir als Gesellschaft auf die Täter?

Wir behandeln Vergewaltiger als Monster und als wäre das ihre Identität – so wie wir auch Opfer auf ihre Identität als Gebrochene festschreiben. Beides ist schädlich. Damit erschweren wir Veränderung und Heilung. Schweden etwa arbeitet in Gefängnissen sehr viel mit Tätern. Nur sehr wenige vergewaltigen danach wieder. Hierzulande wird das viel zu wenig gemacht, weil wir mit Vergewaltigern am liebsten nichts zu tun haben wollen. Ohne Zweifel: Die Täter haben jemandem einen schlimmen Schaden zugefügt. Aber nur, wenn sie sich selbst als Menschen wahrnehmen, können sie sich ändern. Deshalb müssen auch wir über Täter als Menschen sprechen.

Und was hilft Menschen, die vergewaltigt wurden?

Opfer sind nicht ihre Vergewaltigung, sondern komplexe Menschen. Darum unterscheiden sich auch ihre Geschichten und Strategien. Die Frauenberatungsstellen sagen, dass die Betroffene die Heilung selbst macht, sie begleiten sie nur dabei und geben ihr die Hilfestellung, die sie sich wünscht. Das ist ganz wichtig, um die Entmündigung nicht zu wiederholen. Und nicht alle wollen oder brauchen Therapien. Auch das ist zu respektieren. Außerdem ist nach wie vor mehr Aufklärung nötig, an Schulen, bei der Polizei, in Krankenhäusern. Es gibt zwar viel Wissen, aber das muss besser vernetzt werden. Nur so können Opfer selbst entscheiden, welchen Weg sie gehen wollen.