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Die Geschichte einer jüdischen Berliner Familie

Anna Hájková und Maria von der Heydt dokumentieren das Ende der großbürgerlichen deutsch-jüdischen Geschichte am Beispiel der Veit Simons

Anna Hájková und Maria von der Heydt: „Die letzten Veit Simons. Holocaust, Geschlecht und das Ende des deutsch-jüdischen Bürgertums“. Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin 2019, 39 Seiten, 17,90 Euro

Von Klaus Hillenbrand

Veit Simon, wer mag das sein? Wohl kaum ein Mensch kann heute mit diesem ungewöhnlichen Namen etwas anfangen. Dabei zählten die Veit Simons einmal zu den angesehensten Familen Berlins, damals, bevor die Nazis ihre große Mordmaschine anwarfen.

Im Jahr 1812 nahm der Berliner Jude Zento Broch den Namen seines Vorfahren Simon als Familiennamen an. Das „Veit“ stammt von einem im 17. Jahrhundert aus Wien ausgewiesenen Juden, der 1738 Berlin erreichte und dort von Friedrich dem Großen das dauerhafte Aufenthaltsrecht erhielt. 1816 heiratete dessen Enkelin Henriette Zento Broch Simons Sohn Hermann. So entstand der Nachname Veit Simon.

Wen mag so ein Stammbaum noch interessieren? Es gibt keine Veit Simons mehr, die wenigen Nachkommen tragen heute andere Namen. Es existiert auch kein Bankhaus Gebrüder Veit mehr, kein Rechtsanwalt diesen Namens, und die Häuser, in denen die weit verzweigte Familie lebte, haben längst andere Besitzer.

Wie es dazu kam, was aus der Familie Veit Simon wurde, das haben Anna Hájková und Maria von der Heydt in einem kleinen Band aufgeschrieben. Es ist eine akribische Recherche, basierend auf Dokumenten aus Nachlässen und vieler Archive. Es ist die Geschichte von der Zerstörung und dem Mord an einer großbürgerlichen jüdischen Familie aus Berlin. Ein winziges Detail des Holocaust, dass doch deutlicher macht als die Millionenziffern von Toten, was da geschehen ist.

1933 verliert Heinrich Veit Simon wegen des „Arierparagrafen“ sein Notariat. Doch zunächst darf er die Anwaltszulassung behalten, die Familie muss keine wirtschaftliche Not leiden und Gedanken an eine Auswanderung kommen Heinrich nur am Rande. 1936 kommen die Nürnberger Gesetze. Weil die Mutter Irmgard Christin ist, gelten die sechs Kinder als „Mischlinge“. Verfolgt werden sie fortan aber ebenso wie die „Volljuden“, denn die NS-Gesetzgebung stuft sie als „Geltungsjuden“ ein, weil sie Mitglieder der jüdischen Gemeinde sind. Ende 1938 haben vier der sechs Geschwister Deutschland verlassen.

Jedes Schicksal war individuell, auch wenn fast alle Juden keine individuellen Möglichkeiten besaßen, ihrer Verfolgung zu entgehen

Hájková und von der Heydt beschreiben die Vernichtung der bürgerlichen Existenz der Familie mit trockenen, geraden Sätzen, ohne ein Adjektiv zu viel. Der langsame Abstieg in die Armut, die Tuberkuloseerkrankung von Tochter Ruth, der Mord an Vater Heinrich in Polzeihaft, die Deportation anderer Familienmitglieder in Ghetto und Konzentrationslager signalisiert Schrecken genug. Die detaillierte Schilderung des Überlebens der Tochter Etta und der Tod von Ruth in Theresienstadt macht deutlich, worauf es den Autorinnen ankommt: auf die Wahrhaftigkeit der Geschichte.

Denn es ist ja nicht so, dass im Holocaust alle Opfer die gleiche oder nur eine ähnliche Leidensgeschichte erfuhren. Jedes Schicksal war individuell, auch wenn fast alle Juden keine individuellen Möglichkeiten besaßen, ihrer Verfolgung zu entgehen.

Mutter Irmgard hat die NS-Herrschaft in Berlin überlebt, sie hilft versteckten Juden. Etta emigriert mit ihr im Herbst 1945 nach London. Später zieht die Tochter in die USA, wo weitere Verwandte leben. Ein paar Biedermeiermöbel aus der Grunewalder Villa der Veit Simons, die heute in verschiedenen Häusern in Washington, New York und Connecticut stehen, sind alles, was von einer großbürgerlichen, anständigen jüdischen Familie in Berlin übrig geblieben ist.

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