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Ausgehen und rumstehen von René HamannIn Nebel und Kältemit voller Regression voraus

Die LP der Ink Spots, die mir am Black Friday geliefert worden war, gefiel mir gut. Schön mehrstimmiger Männergesang über perfekter Instrumentierung: Barbershop mit ner Menge Soul. Die Plattenhülle redete von den Ink Spots, die ihre Zeit in den 1950er Jahren hatten, als den „brown ­Beatles“, was ich eine etwas merkwürdige Zuschreibung fand. Stimmte übrigens musikalisch nicht. Warf allerdings die etwas peinliche Frage auf: Gab es je so etwas wie explizit schwule afroamerikanische Musik? Wie viele schwule Afroamerikaner kennt man eigentlich? Vermutlich den einen von Village People, aber sonst? Oder war das gar nicht so schwul, was nur so schwul klang? Macht Barry White schwule Musik? Was könnte das überhaupt sein: schwule Musik? Zuschriften und Hinweise bitte an die übliche Adresse.

Ganz andere soziale Zusammenhänge ergaben sich in den Lenaustuben, unserer Fußballguck-Kneipe mit inoffiziellem HSV-Stammtisch. Ein erstaunlicher Laden, der vor einer Dekade noch unter den Aspekt des „social slumming“ gefallen wäre. Also ein Laden, den man nur betreten hätte, um jenseits aller Schamgrenzen sich vielleicht etwas nostalgisch mit Menschen aus Schichten zu amüsieren, mit denen man sonst nicht so viel zu tun hat. Also so wie früher aufm Dorf. Oder in der Kleinstadt. Mittlerweile sind wir schon qua Alter von jedem Szenedruck befreit – den anderen scheint es allerdings auch so zu gehen. Eine allgemeine Erleichterung atmet durch den gut verrauchten Laden mit den ominösen Kunstbäumen und dem Pin-up-Kalender und den Spielautomaten und dem Billardtisch und den Sparkästen und den verstaubten Pokalen des angeschlossenen Fußballvereins. Die Erleichterung, sich und den anderen nichts beweisen zu müssen. Man muss nicht in Szenebars mit Flohmarktmobiliar herumstehen und überteuerte Cocktails trinken, jedenfalls nicht immer. Man kann auch mal hier sein – wie die spanischen und amerikanischen Hipster, die das Lokal wahrscheinlich für sehr deutsch und authentisch halten, und die Kiezjugend auch.

Auch in Sachen Musik wird auf den Konsens gesetzt – der aus dem Laufenlassen eines Regionalsenders mit den Hits der achtziger Jahre besteht. „Owner of a Lonely Heart“, „Love is a Battlefield“ oder auch: „Life is a mystery … Everyone must stand alone“, Zeilen für die Ewigkeit.

Sogar Fans des entlegenen Vereins VfL Osnabrück findet man hier. Sie tragen lila Fanschals, sehen ansonsten aus wie von Outfittery ausgestattet, aber man kann sich sogar mit denen unterhalten, weil sie nämlich durchaus nett sind! Trotz ihrer herkunftsbedingten Verirrung.

Klingt alles etwas regressiv? Ja, vielleicht. Passt aber zur Jahreszeit. Nebel, Kälte, ständige Hungergefühle, fetter Schweinehund, der einfach nicht zu überwinden ist. Volle Regression voraus, wie ein Freund früherer Tage zu sagen pflegte.

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