Ein Bombardierter auf Friedenstour

Kazuo Soda hat die Atombombe auf Nagasaki als 15-Jähriger überlebt. Als er seine zerstörte Heimatstadt sah, schwor er den Amerikanern Rache. Heute reist er als Pazifist um die Welt

aus KÖLN LUTZ DEBUS

„Ich sah viele Menschen den Hang herauf kriechen. Die Haut hing ihnen in Fetzen herunter. Sie bettelten nach Wasser. Aber wir hatten keines.“ Kazuo Soda erinnert sich an den 9. August 1945, heute vor 60 Jahren. Nagasaki war die zweite Stadt nach Hiroshima, die von einer Atombombe zerstört wurde. Etwa 22.000 Menschen starben an jenem Tag, 50.000 erlagen den Folgen der Verletzungen und Verstrahlungen. Knapp drei Kilometer vom Explosionspunkt entfernt überlebte Kazuo Soda.

Im Café des Museums für Ostasiatische Kunst in Köln drängen sich die Sonntagsausflügler bei gedecktem Apfelkuchen. Im angrenzenden Foyer sind Stände aufgebaut. Ein Büchertisch wirbt für eine atomwaffenfreie Welt. Unterschriften dafür werden gesammelt, mit spärlicher Ausbeute. An einem Tisch falten drei Mädchen aus Papierbögen Kraniche. Origami als Friedenssymbol. Und Märchen werden erzählt, für die wenigen Kinder, die gekommen sind. Märchen aus den Ländern, deren Menschen unter Nuklearexplosionen und Uranabbau litten und leiden. Nur wenige der Cafébesucher verirren sich zu diesem „Tag der Begegnung“. 60 Jahre sind eine lange Zeitspanne.

Um 11:02 Uhr detonierte „Fat Man“. So nannten die Bomberpiloten beschönigend ihre Fracht, eine Plutoniumbombe. Viereinhalb Meter war sie lang. Sie hatte einen Durchmesser von 1,5 Meter und eine Sprengkraft von 22.000 Tonnen TNT. Die Bombe explodierte in einer Höhe von 503 Metern über dem Stadtzentrum.

Der Cousin von Kazuo Soda erlitt Verbrennungen am ganzen Körper, starb eine Woche später. Die Schwester seiner Frau arbeitete im Krankenhaus der medizinischen Hochschule. Das Krankenhaus mit allen Menschen darin verdampfte im 1.800 Grad heißen Feuerball. Die Eltern von Kazuo Soda starben fünf Jahre nach dem Bombenabwurf. Der Grund ihres frühen Todes war ihm damals unklar. Die Folgen radioaktiver Strahlung waren noch nicht hinreichend erforscht. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden nicht veröffentlicht. Es gab eine Nachrichtensperre. Kazuo Soda selbst war am 9. August 1945 zufällig zu Hause und in seinem Zimmer geblieben. Er überlebte.

Scherzhaft fragt eine der wenigen anwesenden Jugendlichen: „Ist das hier eine 50-plus-Party?“ Tatsächlich ist das Publikum des „Tages der Begegnung“ überwiegend ergraut. Manche kennen sich noch von den großen Friedensdemos in Bonn Anfang der Neunzehnhundertachziger Jahren. Lila Halstücher tragen noch immer die Damen, lange Bärte die Herren. Auf der Bühne spielt eine Songgruppe. Es klingt nach Crosby, Stills and Nash. Andreas Huppke, Bezirksvorsteher für die Innenstadt und Deutz begrüßt die etwa 70 gekommenen Gäste. Der grüne Lokalpolitiker versucht, einen Bezug zu Köln zu knüpfen. Seit einem Jahr heißt das Gelände, das an das Museum grenzt „Hiroshima-Nagasaki-Park“. Der ehemalige „Aachener Hügel“ sei, so Huppke, ein begrünter Schuttberg. Nach dem 2. Weltkrieg habe man die Trümmer der umliegenden Stadtviertel, auch die des jüdischen Viertels, hierhin gekarrt. So sei der Name des Parks Mahnung, die Schrecken des Krieges nicht zu vergessen. Er selbst habe 1968, damals überzeugter Zeitsoldat der Bundeswehr, den Atomkrieg geübt. Eine Plane, mit der die Menschen sich abdeckten, sollte vor dem nuklearen Blitz schützen. „Eine makabere Übung, die noch heute bei der Bundeswehr zur Ausbildung gehört“, sagt Huppke.

Auch Kazuo Soda war einmal überzeugter Diener seines Landes, auch er kämpft heute gegen Waffen. Vor dem Tag im August war dem 15-jährigen Kazuo Soda klar, dass ein Japaner notfalls für seinen Kaiser sterben müsse. Als er das weite verbrannte Feld sah, das früher seine Heimatstadt war, schwor er den USA Rache. Doch im Laufe der Jahre änderte sich sein Weltbild. Aus dem überzeugten Anhänger des Tenno wurde ein Pazifist. Mit anderen Überlebenden gründete er „Hibakusha“. „Die Bombardierten“, so die wörtliche Übersetzung, setzte sich nicht nur für materielle Entschädigungen ein: Der 2. Weltkrieg ist in Japan nach wie vor ein Tabuthema. Die Hibakusha, augenfälliges Symbol der Kapitulation, werden bis heute stigmatisiert.

Kazuo Soda musste sich bis 1955 jährlich von einer amerikanischen Ärztekommission untersuchen lassen. Die Krankheiten der Hibakusha wurden diagnostiziert. Behandelt wurden sie nicht. „Die Amerikaner benutzten uns als Versuchskaninchen.“ Hiroshima und Nagasaki, so Kazuo Soda, sei ein großes militärwissenschaftliches Experiment gewesen.

Der kleine Mann auf dem zu großen Polsterstuhl spricht leise. Die japanische Dolmetscherin übersetzt. Wie reagiere die Jugend in Japan auf den Jahrestag, will ein älterer Herr mit Baskenmütze wissen. Kazuo Soda lächelt. Über die Jugend Japans könne er keine Auskunft geben. Noch immer werde in den Geschichtsbüchern der Krieg idealisiert. Hibakusha werden von Lehrern zwar in die Schulen eingeladen. Aber wo immer möglich, blocke das Kultusministerium solche Initiativen ab. Eine Frau ganz hinten im Saal meldet sich: „Wie schätzen Sie die Gefahr eines Nuklearkrieges im Nahen und Mittleren Ostens ein?“ Kazuo Soda lächelt wieder, weiß keine Antwort. Viele Anwesende sehen in ihm eher einen Friedenspolitiker als einen Zeitzeugen. Fragen nach seinem Leben sind selten. Dabei hat Kazuo Soda vor sich auf den Boden einen Dachziegel aus Nagasaki hingelegt. Deutschland und die Welt erscheint dem Publikum wichtiger. „Können wir dem Papst über Kardinal Meißner einen Brief von Ihnen überbringen?“ will eine Pfarrerin wissen.

Vor 15 Jahren war Kazuo Soda das erste Mal in Deutschland. Auf eigene Kosten besuchte er eine Friedensinitiative in Dortmund. Im Anschluss machte er einen Ausflug nach Köln, stellte sich auf die Domplatte mit einem Plakat. In diesem Jahr ist er das letzte Mal gekommen. Zu strapaziös ist die Reise für den 75-jährigen. Seit einiger Zeit ist Kazuo Soda an Krebs erkrankt.