berliner szenen Das Alphabet der Stadt

H – Hohenschönhausen

In der S-Bahn ist es sehr still. Plakate am Waggonende machen Eigenwerbung „Für Kontakte von langer Dauer“ oder preisen Mittelchen an gegen das gefürchtete Reizdarmsyndrom. Im Sitz schräg neben mir schnippt eine Frau Süßstoff in einen Pappbecher Kaffee. Draußen meint Nobelpreislady Elfriede Jelinek auf einem Plakat, dass die Wahrheit die Gemüter durch zwei fragwürdige Elfmeter erregt.

Die Station heißt Springfuhl. Das erste Mal fuhr ich mit Doreen in einem roten Sportwagen durch dieses Wolkenkratzer-Suburbia. Es war Winter, die Ampeln leuchteten kräftig, es sah fantastisch aus. So hatten sich die Genossen aus dem Osten also mal die Zukunft vorgestellt. Wohnen wollte man nicht da, aber so als Bildschirmschoner für die Windschutzscheibe kam Hohenschönhausen nicht schlecht. So in echt da herumzulaufen – was war zu erwarten? Bös aus- und dreinschauende junge Männer in Trainingsanzügen mit unangeleinten Kampftölen? Brennende Mülleimer, Läden mit Baseballschlägerverleih?

Ich durchstreife die Pablo-Picasso-Allee und sehe nichts davon. Stattdessen Euphemismen: Die hohen Plattenbauten firmieren unter „Wohnen mit Aussicht“. Auf den Balkonen Sonnenschirme und Topfpflanzen. Am Prerower Platz sieht es aus wie im kanarischen Ferienparadies: Ein müder Asiate sitzt im Liegestuhl vor seinem Kiosk und wedelt sich Luft zu, es gibt Eis am Stiel und kalte Brause. Im Hintergrund stehen die Bettenburgen und sehen immer noch nicht schlecht aus. Jenseits der Ahrenshooper Straße findet sich ein kleiner, verschilfter Tümpel, laut Stadtplan der Barlher Pfuhl. Über dem Wasser ein Mückenflausch. Kinderstimmen vom Spielplatz. Unter den Pflastersteinen der Strand.

RENÉ HAMANN