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Evo Morales tritt zurückFreude trifft Gewalt in Bolivien

Präsident Morales hat nach wochenlangen Protesten überraschend seinen Rücktritt verkündet. Doch auf Freude folgt eine Welle von Gewalt.

Er trete zurück, damit wieder Frieden im Land einkehre: Evo Morales Foto: Juan Karita/ap

LA PAZ taz | Als die Nachricht vom obersten Wahltribunal an der Plaza Avaroa eintrifft, geht ein Aufschrei durch die Menge. „¡Viva la democracia!, es lebe die Demokratie!“ und „¡Sí, se pudo! Ja, wir haben es geschafft“, skandieren die Menschen. Sie jubeln, fallen sich in die Arme. Inmitten der rot-gelb-grünen Menge küssen sich Juan Carlos Zamora (31) und Vanesa Gallardo (31) eng umschlungen. „Wir sind so glücklich wegen der Demokratie“, sagt er. „Meine Frau und ich werden eine Familie gründen und unsere Kinder in einem freien Land aufziehen können!“ Vanesa ist schwanger.

Evo Morales' Rücktrittsankündigung kam so überraschend wie vieles am Sonntag. Gegen sechs Uhr morgens informierte die Organisation Amerikanischer Staaten, dass sie bei der Überprüfung der Ergebnisse der Präsidentschaftswahl vom 20. Oktober „klare Manipulationen“ festgestellt hatte, und empfahl Neuwahlen. Morales kündigte zunächst Neuwahlen an, schloss einen Rücktritt aber aus.

Daraufhin verkündeten die Oppositionsführer, Morales' zweitplatzierter Wahlgegner Carlos Mesa und der Bürgeranführer Luis Fernando Camacho aus der größten Stadt Santa Cruz, die Proteste würden bis zu seinem Rücktritt weitergehen. Die obersten Chefs von Polizei und Streitkräften forderten ebenfalls Morales' Rücktritt. Das mag der entscheidende Punkt gewesen sein. Per Ansprache aus Chimoré, der Bastion der Kokabauern in der Region Cochabamaba, kündigte Morales seinen Rücktritt an.

Er trete zurück, damit wieder Frieden im Land einkehre, sagte er. Doch er blieb nicht bei versöhnlichen Tönen, sondern warf der Opposition erneut vor, einen Putsch gegen ihn angezettelt zu haben. Er wolle nicht, dass es neue gewaltsame Zusammenstöße gebe und weitere seiner Anhänger angegriffen und gequält würden. Brasiliens Ex-Präsident Lula da Silva sowie Venezuelas Präsident Nicolás Maduro sprachen Morales ihr Beileid wegen des „Staatsstreichs“ aus.

Eine Welle von Rücktritten

Tatsächlich war die Gewalt bis zum Samstag nahezu ausschließlich von seinen eigenen Anhänger*innen ausgegangen, die mit Stangen, Stöcken, Steinen und Sprengkörpern auf die Demonstrierenden losgegangen waren. Auch Vizepräsident Álvaro García Linera und Senatspräsidentin Adriana Salvatierra legten ihre Ämter nieder. Es folgte eine Welle an Rücktritten von Minister*innen und weiteren führenden Politiker*innen der Regierungspartei.

Derweil feierten die Menschen in den Straßen von La Paz den „Sieg der Demokratie“ mit Autokorsi, einem Meer von Fahnen und Gesängen. Väter trugen ihre Kinder auf den Schultern, Familien gingen Hand in Hand, Jugendliche und Senior*innen lachten über das ganze Gesicht.

„Ich bin tief bewegt und unendlich dankbar“, sagte Oppositionsführer Carlos Mesa umringt von der Menge bei einer kurzen Ansprache am Parque Universitario. „Dieses Volk hat Amerika und der Welt gezeigt, wie man eine Diktatur besiegt: mit Frieden, Engagement und demokratischer Überzeugung. Mit Jungen, Frauen, dem ganzen Volk, in 21 Tagen.“

In die Freude mischen sich auch nachdenkliche Töne. Es sei ein wichtiger, aber auch ein trauriger Tag, sagt der Musiker und Lebensmittelverkäufer Juan Carlos Gonzalez Vargas (48). „Ich bin nicht dafür, dass Evo Morales bleibt. Aber ich hätte mir gewünscht, dass er auf andere Weise geht.“

Morales hat viel für Bolivien getan

Dass er seine Niederlage eingestehe, keinen Wahlbetrug begehe und vielleicht später noch mal kandidiere. „Er hat sehr viel für unser Land getan hat. Man muss anerkennen, dass Bolivien beim Wachstum eines der besten Länder Lateinamerikas ist. Ich werde ihn auch vermissen, weil er die Menschen vom Land einbezogen hat.“

Da sei der Schmerz über die Toten bei den Protesten, sagte Virginia (62), die mit ihrem Mann durch die Straßen zog. Sie selbst habe nur an zwei Bürgerversammlungen teilgenommen. „Ich danke den jungen Leuten, die das hier bewirkt haben. Sie haben immer gerufen, dass sie nicht müde werden. Und so war es“, sagt sie. „Wir wissen, dass uns für die Demokratie harte Zeiten erwarten. Eine Gruppe von Leuten muss sich an die Spitze stellen, damit das hier weitergeht.“

Tatsächlich ist längst nicht Ruhe eingekehrt in Bolivien. Präsident Evo Morales muss den Rücktritt noch schriftlich erklären, damit er offiziell wird. Manche befürchten, dass er doch noch zurückkehrt. Es ist unklar, wo er sich aufhält. Am Sonntagabend twitterte er, dass die Behörden ihn festsetzen wollten. Zudem hätten gewalttätige Banden sein Haus gestürmt. Doch Polizeichef Yuri Calderon bestritt, dass ein Haftbefehl gegen Morales ergangen sei.

Festgenommen wurden jedoch fast 40 Beamte des Wahltribunals, das für Unregelmäßigkeiten bei der umstrittenen Wahl vom 20. Oktober verantwortlich sein soll, darunter auch die Vorsitzende Maria Eugenia Choque. Sie hatte ihren Rücktritt erklärt. Nach Angaben des mexikanischen Außenministers Marcelo Ebrard haben 20 Mitglieder der bolivianischen Regierung und der Justiz in der Botschaft in La Paz Asyl beantragt. Sein Land werde auch Morales Asyl anbieten, wenn er es suche, sagte Ebrard.

Anhänger von Morales wüten

Mit Einbruch der Dunkelheit begannen Anhänger*innen der MAS-Partei von Morales mit Plünderungen, Angriffen auf Zivilist*innen und Angriffen auf Privateigentum in mehreren Städten, berichtet die Zeitung Página Siete auf ihrem Onlineauftritt. Am meisten wüteten sie in La Paz und der Nachbarstadt El Alto, einer Hochburg der Morales-Anhänger. Es traf Firmen, Seilbahnstationen, das Rathaus und Privathäuser von Oppositionspolitikern.

In La Paz zündeten sie städtische Stadtbusse an und das Haus des Rektors der Universität UMSA, Waldo Albarracín. Auch zwei TV-Sender mussten wegen Drohungen von „masistas“ schließen. Binnen weniger Stunden ist die Angst zurückgekehrt.

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5 Kommentare

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  • Für mich ist der Rücktritt nicht überraschend.

    Wenn das Militär ein Angebot unterbreitet, was der Präsident nicht abschlagen kann, und die Polizei die öffentliche Ordnung gegen Rchte Milizen nicht aufrechterhalten kann, dann spricht man ja wohl auch eher von Putsch, als von Rücktritt.

  • "Plünderungen", "Angriffe[...] auf Privateigentum": die wissen schon warum. Mit den bald folgenden "Demokraten" wird wieder alles seinen bekannten ausbeuterischen, rassistischen lateinamerikanischen Weg gehen. Jetzt beginnt die Zeit des höchstwahrscheinlich wie immer undokumentiert bleibenden Terrors gegen die Indigenen. Tragisch, dass sich so viele vom Blutsauger Mesa vor seinen Karren spannen lassen.

  • Ein ärgerlicher und einseitiger Bericht. Es geht völlig unter, dass Bolivien eben keine Diktatur, sondern eine Demokratie ist und dass Morales, trotz aller Fehler, die Wahl gewonnen hat - auch wenn der angebliche Abstand von zehn Prozent auf den zweitplatzierten Mesa angezweifelt werden muss. Camacho lediglich als "Bürgeranführer" zu beschreiben, ist eine grobe Verharmlosung. Er beruft sich gerne auf die Bibel, ihm werden ultrarechte und rassistische Tendenzen nachgesagt. Und es waren wohl kaum MAS-Anhänger, die das Rathaus gestürmt und die plurinationale Fahne verbrannt haben.

  • Komisch, dass in anderen Quellen ganz andere Leute für die Gewalt zuständig waren. Die Autorin stützt sich auf eine einzige Quelle, das Online-Portal einer Zeitung. Jedenfalls ist dieser Bericht mehr als einseitig.



    amerika21.de/2019/...-putschversuch-oas

  • Super, die Gewalt geht immer nur von der Regierung aus, und nie von der Opposition. Das sind auch nie Randalierer, sondern schlechtestenfalls Rebellen und normalerweise Freiheitskämpfer. Hier wird mir zuviel Begeisterung für den Rücktritt verbreitet. Es wird sich erst später herausstellen, wer von der Bevölkerung denn tatsächlich einen Nutzen hat, und ob es für die breite Mehrheit nicht ein Erwachen mit Schrecken gibt.