MIT HONECKER IM BETT UND JUNGEN VEREHRERN IN DER U-BAHN
: Auf der Insel der Seligen

VON BARBARA BOLLWAHN

Der Freitagabend fühlte sich herbstlich an. Ich fuhr mit dem Fahrrad die Karl-Marx-Allee entlang und hielt auf den Fernsehturm zu, der in zarten Nebel gehüllt war. Mein Ziel war das „Café Sybille“ im „Abschnitt C – Süd“ des denkmalgeschützten Teils der ehemaligen Stalinallee. Am Vorabend des Geburtstages meines ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, der am Samstag 100 Jahre alt geworden wäre, wäre er nicht 1994 im chilenischen Exil gestorben, wurde das Buch „Honecker privat“ vorgestellt.

Ich hatte das Werk aus der Feder seines ehemaligen Kellners für eine Rezension gelesen und war neugierig, ob die DDR-Fahne gehisst oder greise Parteigenossen sich den Namen Honecker auf die Waden tätowieren lassen würden, auf dass er unsterblich werde. Die Buchvorstellung war aber ganz harmlos und ähnelte einer Familienfeier.

Am Vorabend von Honeckers Geburtstag beging der Kellner seinen 45. Hochzeitstag und so war viel Verwandtschaft da. Am Büchertisch wurde ein zweites, in der gleichen Verlagsgruppe erschienenes Buch über Honecker angeboten: „Es war einmal ein Generalsekretär“ ist eine Sammlung von Honecker-Witzen.

Die Pressedame drückte mir ein Exemplar in die Hand und so ging ich später mit Honecker ins Bett. Bevor mir die Augen zufielen, las ich einen Witz über seinen Tod. Fragt der liebe Gott: „Erich, in welchen Himmel möchtest du, in den kapitalistischen oder in den kommunistischen?“ „Ich bin mein Leben lang Kommunist gewesen, da möchte ich selbstverständlich in den kommunistischen Himmel.“ „Gut“, meint Gott, „aber zum Essen kommst du rüber. Für einen Mann kochen wir da drüben nicht.“

Am Samstagabend ging es in den tiefsten Westen, auch wenn der Name irreführend ist: nach Lichterfelde Ost. Dorthin ist vor einigen Jahren eine Freundin gezogen, mit der mich die entzückende Geschichte verbindet, dass wir einmal auf die gleiche Kontaktanzeige eines Mannes im Magazin der Zeit geantwortet haben. Die Freundin wohnt in einem großen Fachwerkhaus mit Swimmingpool im Garten, wo die Mieter jedes Jahr zum Sommerfest laden.

Mit einer selbst gemachten Zitronentarte trat ich die Reise an. In der U-Bahn saß mir gegenüber ein südländisch aussehender junger Mann. Er war hübsch und wirkte irgendwie verloren. Immer wieder bedachte er mich mit Blicken aus seinen abgrundtief dunklen Augen. Ab und an erwiderte ich sein Grinsen. Als ich am Potsdamer Platz umstieg, vernahm ich nach wenigen Metern eine leise Stimme: „Hallo.“ Hinter mir stand der Typ aus der U-Bahn. „Isch disch mag“, sagte er. Er hieß Can, kam aus der Türkei und war 24 Jahre jung. „Hast du Mann?“, fragte er. Ich hielt ihm drei Finger der rechten Hand entgegen. „Drei.“ Ich klärte ihn auf, dass ich doppelt so alt sei wie er. „Isch disch mag“, wiederholte er. Ich notierte seine Telefonnummer und rannte geradezu zur S-Bahn.

Plötzlich erschien mir Lichterfelde Ost eine Insel der Seligen. So war es dann auch: Wohlerzogene Kinder boten auf einem Flohmarkt einen Teil ihrer Kindheit zum Verkauf, während sich die Erwachsenen über ihren Nachwuchs, den Wohnungsmarkt und die Personalpolitik von Entwicklungsminister Niebel unterhielten, in dessen Ministerium einige Gäste arbeiten. Später am Abend verkleideten sich Kinder als Geister, Erwachsene spielten Querflöte und Gitarre und wir tanzten. Auf der Rückfahrt merkte ich, dass ich mir in meine Seidenbluse, die zu meinen Lieblingskleidungsstücken gehört, ein Loch gerissen hatte, auf Pohöhe ausgerechnet.

Die erste Hälfte des Sonntags freute ich mich über den Scheck der VG Wort, der endlich angekommen war. Damit werde ich die Reparatur der Bluse bezahlen können. Am Abend wollte ich zur Museumsinsel fahren und mir das Klassikkonzert vor dem Bodemuseum anhören. Doch eine Freundin sagte wegen Migräne ab, eine andere Freundin musste arbeiten, und weil es immer mal wieder regnete, ging ich in das ungarische Caféhaus Szimpla am Boxhagener Platz und las Zeitung. Als ich nach Hause ging, spürte ich wieder den Herbst.