Der Mythos vom Nachbarn

Deutschland und Österreich. Verfreundete Nachbarn. Eine Ausstellung im Bonner Haus der Geschichte

Selbstironisch, eitel und rascher in der Auffassung – so sah der Dichter Hugo von Hofmannsthal seine österreichischen Landsleute. Den Preußen, die er mit den Deutschen gleichsetzte, bescheinigte er Strebertum, Staatsgesinnung und Rechthaberei. Alles Klischees, die sich aber im Umgang der beiden Nationen zum Teil bis heute gehalten haben. Die Ausstellung „Verfreundete Nachbarn“ im Bonner Haus der Geschichte zeichnet das spannungsreiche Verhältnis beider Staaten nach, die bis 1806 im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ vereint gewesen waren. Später noch einmal sieben Jahre im „Großdeutschen Reich“ der Nationalsozialisten.

Die übervolle Ausstellung mit Fotos, Film- und Tondokumenten, Briefen, Waffen, Plakaten und historischen Landkarten will Geschichte sichtbar machen, einfache Texte erläutern die Hintergründe. Durch die Hallen schwebt ein Klangteppich aus süßen Walzern und Wiener Schmäh, in das sich Hitlers rollendes „r“ mischt, wie der Jubel des Radioreporters über den Sieg der österreichischen Fußballer gegen Deutschland bei der WM 1978. Den Beziehungen zwischen Österreich und der DDR ist ein besonderer Raum gewidmet.

Die vielen kleinen, längst vergessenen historischen „Anekdoten“ sagen oft mehr über die österreichische Befindlichkeit aus als die ausführlich ausgebreiteten Jahreszahlen, Herrschernamen und bekannte Fakten wie der Streit um Groß- und Kleindeutschland im 19. Jahrhundert, der preußisch-österreichische Krieg 1866, die Waffenbrüderschaft beider Staaten im Ersten Weltkrieg und der Austrofaschismus. Nur wer weiß, dass nicht nur der Erfinder des Volkswagens ein Österreicher war und dass dessen Sohn die Porsche-Produktion 1950 vom österreichischen Gmünd nach Stuttgart verlagerte, kann die Verletztheit der österreichischen Seele über die (vermeintliche) Bevormundung durch den großen Bruder nachvollziehen. In der Nachkriegszeit hatte sich das (Mit-)Tätervolk zum Opfervolk erklärt. In den Schulen gab es nicht mehr das Fach Deutsch, sondern nur „Unterrichtssprache“. Zur Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters durften keine „deutschen“ Dichter wie Goethe und Schiller gespielt werden, Bert Brecht allerdings wurde eingebürgert. Mit der Anerkennung der „Opferthese“ erkaufte sich die Sowjetunion die Neutralität des Alpenlandes im Staatsvertrag von 1955; Österreich wurde nicht unter die vier Siegermächte aufgeteilt.

Es mutet wie ein böser Trick der Ausstellungsmacher an, dass sie dem Besucher eine „Abkürzung“ vom Kapitel Anschluss an Nazi-Deutschland 1938 zum Jahr 1986 anbieten. Erst in diesem Jahr begann in Österreich eine behutsame Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit. Anlass waren internationale Proteste gegen die Wahl des SA-Mitglieds Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten. Zu überdenken wäre in diesem Zusammenhang noch einmal Hofmannsthals Charakterstudie: „Historischen Instinkt“ sollen die Österreicher besitzen, die Deutschen dagegen „Mangel an historischem Sinn“.

Doch nicht nur Spannungen prägen das deutsch-österreichische Verhältnis. Ausführlich gewürdigt wird die Freundschaft der sozialdemokratischen Politiker Willy Brandt und Bruno Kreisky, die sich im schwedischen Exil kennen lernten. Und die Rolle Österreichs bei der deutschen Wiedervereinigung, die mit dem Zerschneiden des Eisernen Vorhangs an der ungarischen Grenze eingeleitet wurde. Für österreichische Minderwertigkeitskomplexe gibt es heute kaum noch Gründe: Wirtschaftlich geht es dem Alpenstaat inzwischen besser als Deutschland. Seine aktuelle Arbeitslosenquote beträgt nur vier Prozent, in Deutschland ist sie mehr als doppelt so hoch. In der Alpenrepublik herrscht sogar leichter Arbeitskräftemangel.

JÜRGEN SCHÖN

Bis 13. Oktober 2005Eintritt frei