Fremde Stadt im fremden Land

Die Berliner Fotografin Helga Paris erschuf ikonische Bilder – obwohl sie ihre Modelle nie überhöhte, sie ganz in ihrem Menschsein beließ. Nun würdigt die Akademie der Künste ihr prominentes Mitglied mit einer Schau

Helga Paris: Sohn des Architekten Melnikow, 1991/92 Foto: Helga Paris / Akademie der Künste

Von Thomas Winkler

Der Film, der den Besucher im ersten Raum empfängt und damit die Ausstellung eröffnet, ist dreigeteilt. Drei Bilder werden nebeneinander an die Wand des sonst nahezu leeren Raums geworfen, drei Filme, jeder 30 Minuten lang, die parallel laufen, sich mal ergänzend, mal sich doppelnd von Helga Paris, ihrer Arbeit als Fotografin erzählen, sie aber auch beim Anschneiden eines Käsekuchens, beim Nähen eines geblümten Kleides für das Enkelkind oder beim Tanzen mit ihrem Mann zeigen. Ein „Film-Triptychon“ nennen es die Ausstellungsmacher. Ein Triptychon für einen Altar, eine Ausstellung als Andacht. Ja, man kann sagen: Mit dieser Retrospektive huldigt die Akademie der Künste ihrem Mitglied Helga Paris.

Was nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Denn geht man durch die anschließenden Räume und betrachtet die 275 für „Helga Paris, Fotografin“ ausgewählten Bilder, stellt man wieder einmal fest: Einzelne Bilder der legendären Berliner Fotografin mögen zwar zu Ikonen geworden sein, aber grundsätzlich hat die Fotografie von Helga Paris so gar nichts von Ikonenmalerei. Weil sie den abgebildeten Menschen eben nicht überhöht, sondern ihn ernst nimmt und ihn in seinem Menschsein belässt.

Diese Qualität zeichnet vor allem die Schwarzweißfotografien aus. Seien es die berühmten Porträts der Textilarbeiterinnen des VEB Treffmodelle, wie sie 1984 ernst und in sich ruhend in die Kamera schauen. Sei es die Familie Köstner, die Müllfahrer-Dynastie, die über Paris’ Wohnung in Prenzlauer Berg lebte und deren Mitglieder sie immer wieder fotografiert hat. Seien es die Schriftstellerfreunde Christa Wolf, Adolf Endler oder Elke Erb, die ganz bei sich sind auf den Fotos ihrer Freundin. Seien es die Menschen, die Paris in den Nachwendejahren auf dem Berliner Alexanderplatz angesprochen und fotografiert hat und deren Blick eher verunsichert scheint. Seien es die trotzigen russischen Weltkriegsveteranen, die Paris 1995 in Wolgograd und New York abgelichtet hat. Seien es die 13-jährigen Jungen und Mädchen, die sie 1998 in einer Hellersdorfer Schule gefunden hat, und in deren Gesichtern sich der seltsame Schwebezustand zwischen Kind und Erwachsenem, Hoffen und Bangen spiegelt. Seien es die zwölf, als Block an einer Wand hängenden Selbstporträts: Alle diese Aufnahmen zeichnet aus, dass sie „das Besondere des Menschen in seinem Sein entdecken“, so beschrieb es Helke Misselwitz, die Regisseurin des Film-Triptychons, bei der Pressekonferenz. Das Werk von Paris, meint Kuratorin Inka Schube, erzählt von „Empathie als Grundlage für das Funktionieren einer Gesellschaft“.

Sie habe alles gesagt, erklärt Paris die Entscheidung, nicht mehr zu fotografieren. Ihr Archiv, das unter anderem 230.000 Negative umfasst, hat sie der Akademie überlassen. Schube hat sich durch dieses riesige Œuvre gewühlt und nicht nur die bekannten Serien um neue, bislang weniger bekannte Aufnahmen ergänzt, sondern auch zwei, wie es die Kuratorin nennt, „Schätze“ gehoben. Eine bislang nicht bekannte Serie zeigt das Moskau von 1991/92 als bröckelnde Stadt voller Außenseiter und Verlorener. Und flach in einem Schaukasten liegen Fotos, die 1981 und 1982 im Leipziger Hauptbahnhof entstanden sind und noch nie zuvor zu sehen waren: Ein junger Mann eilt zum Zug; eine ältere Frau blickt in der Bahnhofskneipe skeptisch über die Schulter; der Kellner trägt eine schwarze Fliege über dem strahlend weiß gestärkten Hemd; ein Mann im Trenchcoat hält einen Kinderwagen fest vor einem dampfenden Zug; Menschen studieren den Fahrplan, Menschen warten; Menschen kommen und gehen.

Paris’ Werk erzähle von Empathie als Grundlage für das Funktionieren einer Gesellschaft

Die einzelnen Motive sind unspektakulär, sind Alltag. Es sind genau solche Bilder, die dazu geführt haben, dass Paris vor allem als herausragende Chronistin der DDR wahrgenommen wird. Eine Einordnung, die Schube für „eine Lächerlichkeit“ hält, und in der auch immer abwertend mitschwingt, dass diese DDR ja verschwunden, untergegangen ist. Aber Paris, jetzt 81 Jahre alt, hat ihre Kamera erst vor acht Jahren zur Seite gelegt. Sie hat nach einer Ausbildung als Modegestalterin Mitte der 60er-Jahre zu fotografieren begonnen, lange vor und lange nach dem Ende der DDR fotografiert. In der Retrospektive ist nun deutlich zu sehen, dass sie nicht die DDR fotografiert hat, sondern die Menschen, die nicht verschwunden sind, auch wenn manche von ihnen persönlich vom Untergang bedroht waren. Sie hat, wenn man sie unbedingt als Dokumentaristin sehen will, nie das Land dokumentiert, sondern eine Gesellschaft – und vor allem ihre Brüche.

So wie in den frühen Achtzigerjahren, als Paris nach Halle ging, um dort das Leben in einer sozialistischen Modellstadt festzuhalten. Was sie einfing, waren dann aber die inneren Widersprüche des real existierenden Sozialismus: Arbeiterinnen und Arbeiter, Jugendliche und Kinder stehen vor verwitterten Fassaden, toten Schaufenstern, ihr selbstbewusster Blick ist ein starker Kontrast zur grau düsteren Umwelt. Neben den Bildern steht ein Zitat von Paris an der Wand: „Ich habe Halle fotografiert wie eine fremde Stadt in einem fremden Land.“ So viel Realismus war nicht opportun: Die Ausstellung wurde verboten, die Bilder erst 1990 gezeigt und zehn Jahre später unter dem Titel „Diva in Grau“ gedruckt.

Auch der allergrößte aller Brüche liegt in den Bildern von Helga Paris offen zutage: Nicht nur die Menschen verändern sich nach 1989, erscheinen plötzlich leichter, verspielter. Auch die Bildsprache der Fotografin wird poetischer, immer weniger dokumentarisch. Mitte der 90er Jahre fährt Paris nach Polen und fotografiert nicht nur Menschen, sondern auch Landschaften. Ein schmaler Kirchturm am Horizont, verwischte Schleier über winterkargen Feldern, eine Szenerie so geisterhaft wie ein Gerhard-Richter-Gemälde. Schließlich, in der allerletzten Serie, die Paris fotografiert hat, „Mein Alex“ von 2011, sind die Menschen nur mehr Schemen, die in der Architektur des Alexanderplatzes aufgehen.

„Helga Paris, Fotografin“.Bis zum 12. 1., Akademie der Künste, Pariser Platz 4, Berlin