: Mentale Inventur
Pfeif doch auf die Handlung: Mit „Ablösung“ ist der einzige Roman des norwegischen Schriftstellers Tor Ulven auf Deutsch erschienen. Er ist im Nouveau-Roman-Stil gehalten
Tor Ulven: „Ablösung“. Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel. Droschl Verlag, Graz 2019, 144 Seiten, 20 Euro
Von René Hamann
Einfach ist es nicht. Der einzige Roman des norwegischen Autors Tor Ulven, der sich im Jahr 1995 mit Anfang 40 das Leben nahm, ist eine Art Nouveau Roman auf Norwegisch; eine detailreiche Schilderung von Geisteszuständen, Flashbacks, Erinnerungsfetzen, Abläufen. Es gibt ein durchlaufendes Ich, das aber keinesfalls kohärent ist, was bedeutet, dass in „Ablösung“ von ein und demselben oder von vielen verschiedenen Stimmen erzählt wird – die Unterschiede liegen in Alter und Beruf. Demzufolge gibt es auch keine Handlung, die man verfolgen könnte. Wie gesagt, einfach ist es nicht.
Medikamenten, Leerkassetten
Trotzdem lohnt die Lektüre. „Ablösung“ ist ein schmaler Roman (140 Seiten), der eine gewisse Prüfung der eigenen Lektürefähigkeiten darstellt. Und doch erzählt er zeitnah von einer Epoche, die dem Untergang geweiht zu sein scheint: Tor Ulven übt sich nicht nur in innerer Rede, sondern auch in Auflistung. Auflistung von Alltagsgegenständen, Medikamenten, Gebrauchsmaterial, ob „90-Minuten-Leerkassette“ oder „Computerspiele mit Joystick oder Laserpistole“.Ulven erstellt eine Inventur der Wendezeit, der ausgehenden achtziger Jahre. Es ist aber nicht nur eine Inventur materieller Art, sondern eine des Gefühls, einer der mentalen Art.
„Ablösung“ ist, so gesehen, nicht nur die späte Weiterführung des Werks von Claude Simon und Alain Robbe-Grillet in deren Kunst der überdetaillierten Beschreibung, sondern auch späte Antwort auf James Joyce und das letzte Kapitel des „Ulysses“: ein Rausch an Worten, ein durchlaufender Bewusstseinsstrom, der gern den Materialkasten öffnet und Unzähliges auflistet. Literaturliteratur. Ein Junge, ein Mann, ein Greis,, fabulierend, grübelnd, über sich und seinen Alltag sinnierend. Manchmal geht es raus, in einen Laden, in eine Fabrik, an eine Straßenbahnhaltestelle. Manchmal tauchen andere Figuren auf, auch Frauen, ehemalige Geliebte, die ruppige Telefonate führen. Sprachlich und atmosphärisch ist das ganz toll, aber eben: auch nicht einfach.
Dafür oft sehr deutlich. Denn Tor Ulven konnte auch so schreiben: „… und deshalb, denkst du, haben sie auch den Segen des Geldes nicht verstanden, von welchem sie glauben, es diene dazu, sich Dinge zu kaufen, während es in Wirklichkeit[…] Freiheit von der Arbeit, von jedwelcher Arbeit garantiert; ein Lächeln zuckt in deinem Mundwinkel, als du im Taxi vorbeifährst und an diese lächerlichen Idealisten denkst, die sich einbilden, dass es besser sei, sich für den Staat abzurackern als für einen privaten Ausbeuter […], und du lächelst bei dem Gedanken an die Arbeitslosigkeit, als wäre irgendwie der Müßiggang, nicht die Arbeit das Problem, als wäre es die Schwerarbeit, die zu erwerben man Schlange stehe, und nicht für ein Gehaltskonto (und, selbstredend, die damit verbundenen Genüsse); sie alle, denkst du, die nicht verstanden haben, dass es die Arbeit ist, die abgeschafft werden müsste, und die nicht den Verstand haben, sie, zumindest, für sich selbst abzuschaffen.“
Meister der Grautöne
Und, ja, es geht auch einsam zu, höchst einsam, in diesen Gedankengängen. Ulven selbst galt und gilt als writer’s writer, als Autor für Autoren, und, besonders in Norwegen, als höchst einflussreich. Natürlich kommt die Rezeption dieses Meisters der Grautöne, der dunklen Stimmung, nicht ohne den Hinweis auf Karl Ove Knausgård aus. Der hat Ulven nicht nur einmal als einen großen Einfluss genannt. Was man in „Ablösung“ durchaus erkennt: Knausgårds eigene Beschreibungswut, sein Hyperrealismus haben hier wohl ihren Ursprung. Allerdings macht es Knausgård den Lesenden leichter, indem er Erklärung, Handlung bindend einsetzt – worauf Tor Ulven eindrücklich pfeift.
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