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Das Schlimmste kommt noch

In Manier des magischen Realismus beschreibt Amitav Ghosh in „Die Inseln“, was uns in Anbetracht des Klimawandels bevorsteht

Monsune werden unberechenbarer mit dem Klimawandel. Straßenszene, Kalkutta, 2017 Foto: Debarchan Chatterjee/Pacific Press/LightRocket/getty

Von Eva Behrendt

Flüge sind in diesem Buch kein Problem. Der Antiquar und Icherzähler Dina­nath Datta, der sich von seinen westlichen Freunden Deen nennen lässt, reist von New York nach Kalkutta und wieder zurück, weiter zu einer Konferenz nach Los Angeles und von dort nach Venedig, von wo er, per Schiff allerdings, zu einer Seenotrettungsaktion auf dem Mittelmeer aufbricht. Auch die Meeresbiologin Piya Roy, auf die er ein Auge geworfen hat, jettet berufsbedingt zwischen den Mangrovenwäldern der indischen Sundabarns und ihrer Fakultät in Oregon hin und her. Geboren in Bangladesch, aufgewachsen in Kalkutta und wohnhaft in Brooklyn, aber mit Familie in der alten Heimat, gleicht Deen seinem Schöpfer Amitav Ghosh, der als Schriftsteller und Literaturprofessor ebenfalls zwischen den Kontinenten pendelt.

Der Name Ghosh fällt seit zwei Jahren regelmäßig, wenn die Rolle des Klimawandels in den Künsten zur Debatte steht: In seinem 2017 erschienenen Essay „Die große Verblendung“ konstatierte der Autor nicht nur, dass die klimatischen Veränderungen in der jüngsten abendländischen Belletristik so gut wie gar nicht vorkämen, obwohl sie, zumal im globalen Süden, längst Realität sind. Er glaubt darüber hinaus, dass die fiktionale Literatur mit zwei anderen Großfiktionen des Westens, Kapitalismus und Imperialismus, eine unbewusste Komplizenschaft eingehe.

Sein aktueller Roman „Die Inseln“ verspricht eine Antwort auf die Frage, wie sie denn aussehen könnte, die Literatur zu Zeiten des Klimawandels. Zunächst ist es nur das bengalische Wort für „Gewehrhändler“, Bonduki Sadagar, das auf einer Hochzeitsfeier in Kalkutta die Aufmerksamkeit des Icherzählers auf sich zieht. Kanai, ein entfernter Verwandter, spricht ihn darauf an: Als promovierter Antiquar müsse er doch wissen, was es damit auf sich hat. Und tatsächlich kennt der belesene Deen bengalische Epen, die, ähnlich der homerischen Odyssee, in zahlreichen Episoden die Flucht des listigen Bonduki Sadagars vor der Schlangengöttin Manasa Devi beschreiben, die sich für seine Ungläubigkeit an ihm rächen will. Schon am nächsten Tag lässt sich Deen überreden, zu einem vom steigenden Meeresspiegel bedrohten Schrein der Schlangengöttin in den Sundabarns zu reisen, um diesen kurz vor dem Versinken zu dokumentieren.

Mehr als Manasa Devi und der Gewehrhändler schürt jedoch der kühle Charme der Umweltaktivistin Piya sein Interesse. Sie kämpft gegen lokale Unternehmen, die die Flusslandschaften des einst überaus artenreichen Mangrovendschungels verschmutzen. Doch nicht sie, sondern ihr Ziehsohn Tipu begleitet Deen in den Dschungel. Der junge Mann hat zeitweise bei Piya in den USA gelebt, ist geschult in Digital- und Popkultur und steckt doch mit mindestens einem Bein im Mangrovenschlamm. Während Deen den Fries des Schreins zu entziffern versucht, wird Tipu im Tempel von einer Königskobra gebissen. Dank der Hilfe des jungen Schreinwächters Rafi überlebt er, doch sowohl er als auch Deen sind von nun an wie infiziert, „als wäre irgendetwas Lebendes in meinen Körper eingedrungen, etwas Uraltes, das im Schlick geschlummert hatte. […] Es war die Erinnerung, aber nicht meine, sie war weit älter als ich, ein verschütteter Aspekt der Zeit, der wieder zum Leben erwacht war, als ich den Schrein betreten hatte, etwas Furcht Einflößendes, Bösartiges, Übermächtiges, etwas, das mir nicht erlaubte, mich davon zu befreien.“

Die Kleine Eiszeit war nichts dagegen

Hier schlägt Amitav Ghosh den ersten Pfeiler seines magischen Realismus ein: Bissige Schlangen, giftige Spinnen und zerstörerische Würmer, aber auch die Visionen fiebernder „Infizierter“ treiben von nun an die Handlung mit voran, in der Logik der Moderne als Folge der Erd­erwärmung, in der Logik der alten Epen als Resultat der Überhebung des Menschen über die Götter.

Amitav Ghosh: „Die Inseln“. Aus dem Englischen von Barbara Heller und Rudolf Hermstein. Blessing Verlag, München 2019, 368 Seiten, 22 Euro

Deens nächste Station ist eine Konferenz in Los Angeles; Anlass ist der bibliophile Fund einer uralten Ausgabe von Shakespeares „Kaufmann von Venedig“. Schon vom landenden Flugzeug aus sieht er Wildfeuerwände, Rauchwolken – und einen Raubvogel, der im Inferno eine Schlange erbeutet. Kurz darauf lauscht er einem Keynote­speaker, der über die sogenannte Kleine Eiszeit im 17. Jahrhundert referiert, die das Heizen mit fossilen Brennstoffen und damit womöglich das Denken der Aufklärung in Gang setzte. „‚Und was wir schon jetzt sehen‘ – er unterbrach sich und zeigte in Richtung der Waldbrände – ‚sollte genügen, um uns klarzumachen, wie geringfügig die Klimaschwankungen der Kleinen Eiszeit waren gegen das, was uns heute bevorsteht.‘“ Auf dem Kongress trifft Deen auch die Venezianierin Cinta wieder, eine ältere, durch den Verlust von Mann und Tochter gezeichnete Freundin aus universitären Zeiten. Die divenhafte Professoressa steigt voll ein auf die losen Mythenfäden und diffusen Mutmaßungen, die Deen ihr skeptisch präsentiert. Was, wenn ein Zusammenhang bestünde zwischen Bonduki Sagadar und dem Kaufmann von Venedig? Wie eng sind überhaupt die Verbindungen zwischen der italienischen Lagunenstadt und dem indischen Küstenland?

Folgerichtig spielt die dritte Station des Buchs in der morbiden Atmosphäre venezianischer Gassen und Kanäle. Ghosh muss sich im Vorfeld noch einmal Nicholas Roegs „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ angeschaut haben, so lustvoll lässt er Stuckbrocken vor Deens Füße krachen oder Deen und Cinta fast auf einem schiffsbohrwurmstichigen Steg im Aqua Alta absaufen. Gleichzeitig lenkt er den Fokus nun deutlich auf Migration und Rassismus: Gerade Venedig ist ein beliebter Anlaufpunkt etwa bengalischer Klimaflüchtlinge. Viele verrichten dort, oft von einer Allianz aus Schleppern und Mafia geknechtet, die Drecksarbeit in Restaurantküchen und auf Baustellen. So trifft Deen auch Rafi wieder, der verzweifelt den auf dem Landweg nach Europa von ihm getrennten Tipu sucht. Um ihm dabei zu helfen, müssen Deen und seine sämtlichen Reisegefährtinnen zusammenstehen.

So entpuppt sich Ghoshs gelehrte Mythenmodernisierung als Ideenroman, der weniger apokalpytisch sein will als solidarisch und handlungsermächtigend: angefangen bei postkolonialer Erzählperspektive, der Ghosh zwei starke Frauenfiguren und das schwule Paar Rafi und Tipu zur Seite stellt, bis zur Entwicklung Deens vom passiven Intellektuellen zum engagierten Aktivisten und Partner. Dennoch bleiben Ghoshs Figuren, so originell sie qua Biografie, Traumatisierung oder Beruf auch konzipiert sein mögen, merkwürdig flach und skizzenhaft. Aber vielleicht folgt das nur konsequent aus der Verschiebung von Prioritäten: Einer der „Verblendungszusammenhänge“, die Ghosh in der zeitgenössischen Literatur ausgemacht hat, ist schließlich deren Vorliebe für hochindividuelle Innenschauen. Ihr fügen „Die Inseln“ den Gedanken hinzu, dass wir durch die Geschichte(n) hindurch alle gleichermaßen Natur sind, Pflanzen, Menschen, Götter und andere Tiere.

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