Besinnung in stockdusteren Boxen

Der Berg-Wanderungen zweiter Teil: Auf dem Pilgerweg im Palast der Republik kann man sich zum Gespött machen, nervös kichern, sterben, sich ekeln und dabei auch ein bisschen langweilen. Ein Erfahrungsbericht in fünf Lektionen

Pommes, die vorher von vielen Pilgerfingern betascht wurden, schmecken nicht

Der interessanteste Moment ist eigentlich schon der, bevor es überhaupt losgeht – nämlich wenn die wartende Menge vor der Bergstation sich teilt, die Wege sich trennen. Sich also zeigt, wer auf welcher Seite steht. Die Draufgänger und Adrenalinhungrigen, die den „Bergsteigerweg“ meistern wollen: nach rechts bitte. Die Suchenden und Glaubensduseligen, die den „Pilgerweg“ gewählt haben: auf die andere Seite. Eine kleinere Gruppe, erwartungsgemäß. Die vielen beglotzen die wenigen, fast schon mitleidig. Die erste Lektion im Volkspalast: Den Pilgerweg zu wählen heißt auch ein bisschen, sich zum Freak zu machen, zum Gespött zu werden. Es geht hier allerdings auch um handfesten pseudospirituellen Quatsch.

Nun also los: Eine Nummer gezogen, die dazu passende Styroporbox gesucht, sich hineingesetzt, neben eine unbekannte Co-Pilgerin. Hallo, ganz schön eng hier drin. „Kommen Sie zur Besinnung“, sagt eine Stimme von draußen, dann wird die Tür verrammelt, es ist stockduster und still. Nichts passiert. Die zweite Lektion für heute: Mit einer unbekannten Frau auf Tuchfühlung in einer Box zu kauern und sich besinnlich anzuschweigen ist unerträglich. Viel leichter ist es, nervös kichernd und souverän smalltalkend das Unbehagen zu übertuscheln, dass es hier drin ja schon verdammt nach Sarg aussieht!

Dann beginnt die Wand zu leuchten. „Du wirst sterben“ steht dort jetzt, geschrieben in weißem Licht. Hüsteln. Räuspern. Dann geht die Tür wieder auf – wurde aber auch Zeit! – und man sieht, dass ein Pilger „Ich nicht!“ an die Wand geschmiert hat. Scherzkeks. Eine Treppe hoch, dann noch eine Treppe höher, irgendwo wartet das „Plateau des schönen Scheiterns“. Vorerst steht man aber mit seinen Co-Pilgern in einer rundum verspiegelten Box, mit Funkkopfhörern auf den Ohren. Wohin man auch schaut, man blickt den anderen ins Auge. Unangenehm. Dann geht das Licht aus, die Wände werden transparent, Dirk von Lowtzow fängt an zu singen: „Ich hab die Schwelle gekreuzt / In die Unendlichkeit.“ Von da sind es nur zwanzig Meter Luftlinie zum größeren Star: Michael Jackson, auf der anderen Seite, im Spotlight. Der Moonwalk, die Handschuhe, der Griff zum Schritt, das Victory-Zeichen. Er ist es wirklich! Die dritte Lektion für heute: Michael Jackson kann nicht mehr sterben.

Noch eine Treppe weiter soll es „Chips of Peace“ geben. Eine Erleuchtete in weißem Kittel fordert jeden auf, eine Scheibe von einer Kartoffel abzuschneiden. Die wird in einer segnungsinspirierten Zeremonie frittiert. Dann darf man sie essen. Vierte Lektion: Pommes schmecken nicht, wenn man weiß, dass die Kartoffel vorher von wer weiß wie vielen Pilgerfingern betatscht und befummelt wurde. Bei aller Nächstenliebe. Und schon wieder eine Box, diesmal die „Sudden Death Funeral Company“. Man nimmt Platz auf Polstermöbeln, eine Frau informiert freundlich über die allerneusten Bestattungsmethoden. Mit ihnen ließe sich „der Anfang nach dem Ende individuell gestalten“, lächelt sie wie im Verkaufsfernsehen. Für Menschen mit nur wenig Freunden gibt es beispielsweise einen Katalog, aus dem man sich berühmte Schauspieler bestellen kann. Die schluchzen dann extra laut auf der Beerdigung. Für Tote mit Raumfahrerambitionen empfiehlt sich das „Space Grave“, eine mit Asche gefüllte Kapsel, die ins All geschossen wird. Eine kostspielige Angelegenheit allerdings, denn die Angehörigen müssen bis nach Cape Canaveral reisen.

Ein Abgrund öffnet sich im Sessel, ein Pilger plumpst erschreckt in den Berg. Das Sofa kippt zur Seite, vier Pilger fallen aus der Box. „So fühlt sich der Tod an“, erklärt die Frau, während man rutscht und rutscht und auf anderen Pilgern landet, jungen Franzosen zum Beispiel, die die Matratze hier unten ganz bequem finden und überlegen, ob sie nicht einfach liegen bleiben sollen. Die fünfte Lektion für heute: Sterben ist langweilig. Von hier aus spuckt einen der Pilgerweg dann zurück ins Freie, hinaus auf eine Bauarbeitertreppe. Sie führt hinunter, zurück ins normale Leben vor dem Volkspalast, wo ein DJ Disco-Scheiben auflegt, wo Bier getrunken wird. War das jetzt besonders erleuchtend oder besinnlich? Vielleicht eine Glaubensfrage. JAN KEDVES

Die Reportage vom Philosophenweg: Nächsten Donnerstag in Ihrer taz; Infos zum Berg im Volkspalast: www.volkspalast.com