RUSSLAND IGNORIERT SEIN IMMER DRÄNGENDERES DROGENPROBLEM
: Die bedrohliche Grenze

Die Internationale Schutztruppe in Afghanistan (Isaf) kann beim Kampf gegen den Anbau und Export von Drogen keine nennenswerten Erfolge vorweisen. Im Gegenteil. Seit die Isaf im Land ist, warnte Russlands oberster Drogenfahnder Wiktor Tscherkessow nicht grundlos, blühten Anbau und Export wieder auf. Die russischen Drogenfahnder haben guten Grund, alarmiert zu sein.

Russland ist nicht nur das Transitland afghanischen Heroins auf dem Wege nach Europa, es zählt inzwischen auch zu den wichtigeren Konsumenten. Zwischen vier und sechs Millionen Russen sind, konservativ geschätzt, drogenabhängig. Da Russlands Lebensgeist, der Wodka, als homöopathisches Wässerchen nicht unter die Drogen fällt, ist die wahre Quote aller Drogenkonsumenten weit höher anzusetzen.

Bislang hat die Politik daran keinen Anstoß genommen. Wohl auch, weil Prophylaxe sich schwer mit einer Mentalität in Einklang bringen lässt, die ungern an morgen denkt. Doch genau dies wäre geboten. Die Zahl der HIV-Infizierten – im ersten Stadium als Folge von Drogenkonsum – nimmt rapide zu. Russlands Aids-Rate gleicht jenen in der Dritten Welt, mit fast einem Prozent Infizierter kommt das Land jener Mengengrenze nahe, die in afrikanischen Staaten als bedrohlich gilt.

Dennoch wird Aids in Russland totgeschwiegen, und dies mit Unterstützung der orthodoxen Kirche. Sie vermittelt der Öffentlichkeit, die Krankheit sei nichts anderes als eine gerechte Strafe für sündhaften Lebenswandel. Das mögen nicht mehr alle glauben. Zur Folge hat es indes, dass öffentliche Aufklärungskampagnen am Widerstand der verantwortlichen Biedermänner scheitern.

Doch leider wollte Tscherkessow darauf kaum aufmerksam machen, er hatte wohl doch ein gänzlich anderes Anliegen: Ende des Jahres soll Russland seine Truppen von der tadschikisch-afghanischen Grenze abziehen, der Nahtstelle des Drogenschmuggels. Jeden Abzug aus dem ehemaligen Imperium empfindet Moskau als Prestigeverlust – und dem Phantomschmerz geht der Entzug voraus. KLAUS-HELGE DONATH