: Die vielen Gesichter der Paula B.
Das Modersohn-Becker-Museum zeigt die erste auf Selbstporträts fokussierte Ausstellung seiner Hausheiligen. Vieles spricht dafür, dass es sich um die bedeutendste Werkgruppe ihres Schaffens handelt
Von Benno Schirrmeister
Hat Ich Zukunft? Vielleicht kommt da ja noch was. Aber dass seine Geschichte ihren dramatischen Höhepunkt um 1900 erlebt hat, als das Jahrhundert der Innerlichkeit im Kult des Ich kulminiert und in der faszinierenden Entdeckung seiner unbewussten Regionen, lässt sich hingegen gut belegen. Die Frage, wer ich sei, steht auf jener Jahrhundertschwelle vor ziemlich jeder Kunstproduktion.
Sie führt sie – es ist dieselbe Bewegung – zur Zersplitterung, Zerschlagung und Zersetzung des Subjekts, dessen Fade-out die letzten 40 Jahre prägt. Eine, vielleicht die einzig wahre Antwort hat damals die Bremer Malerin Paula gefunden, gerade in dem Moment, in dem sie sich weder als Frau Modersohn noch als Frau Becker fühlt: „Ich bin Ich“, schreibt sie in einem Brief an Rainer Maria Rilke „und hoffe es immer mehr zu werden.“
So lautet auch der Titel der aktuellen Ausstellung im Paula-Modersohn-Becker-Museum, und das ist gut. Denn das ist ja ganz und gar kein banaler Satz, und auch kein bescheidener: Er klingt ein bisschen nach Gott, der ja auch sagt, er wäre der, der er ist – und das soll man ihm gefälligst glauben. Es klingt ein bisschen auch nach Georg Fichte, dessen Ich-=-Ich-Formel den Atheismusstreit auslöst. Und am Ende hört es sich dann doch vor allem nach Jacques Lacan an, in Antizipation: Ein Subjekt, das erst noch und immer mehr wird, kann ja nicht zugleich sein. Es symbolisch zu fassen, wird also zu einer Lebensaufgabe. Mehr als 60 Darstellungen ihrer selbst hat Paula Modersohn-Becker geschaffen, von der Jugend an bis zum frühen Tod. Und 50 von ihnen sind in der Ausstellung versammelt – von der flüchtigen Skizze übers Witzbild bis zum erratischen „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“, signiert mit P. B., also ohne das M. des angetrauten Otto: der erste weibliche Selbstakt der Kunstgeschichte, so heißt es.
Gemalt hat sie es teils nach einer Selbstfotografie im Studio, teils aber eben auch nach der Fantasie oder besser der traditionellen Ikonografie irgendeiner archaischen Fruchtbarkeitsgöttin, hochschwanger, wie die nun mal zu sein haben, vor einem unpersönlichen, außerzeitlichen Hintergrund: Erkundet sich die Malerin malerisch als Urbild oder Ideal? Macht sie sich über sich selbst lustig, wenn sie eine Postkarte tuscht, vorn drauf in sackbraunem Kleid eine Frau mit Pinseln und Staffelei, im blauenden Hintergrund die Silhouette von Notre Dame de Paris?
Allein die Zahl der Selbstporträts, 60, ist ja schon immens, bei einer Malerin, die mit 31 Jahren starb. Völlig verrückt wird die Angelegenheit indes dadurch, dass vor der jetzigen noch keine Ausstellung das Thema der Eigendarstellung in ihrem Schaffen je ins Zentrum gerückt hätte: Gerade deshalb sollte man sich auf die Schau einlassen wie auf eine Expedition ins Unbekannte. Denn es ist ein echtes Abenteuer, in das diese Bilder die Museumsgäste stürzen, besser als die ganze Biografistik, die das imaginäre Ich überlagert, das die Künstlerin produziert. Gespürt hat das, verängstigt, ihr erster Sammler Karl Ernst Osthaus: „Paulas Selbstportraits finde ich alle grausam gegen ihre Lieblichkeit.“
Genau. Das ist es. Hier in diesen Bildern von sich tritt sie den BetrachterInnen nicht unverstellt und authentisch entgegen, wohl aber völlig unbeherrscht. Nicht lieblich und artig und hübsch. Sondern so, wie sie sich selbst will. Grimassierend. Geschönt. Abstrahiert. Als Tote. Als Experimentierfeld gestalterischer Techniken. Als enigmatische Personifikation einer unbekannten Eigenschaft. Als Maske. Als Ich. Nichts könnte eindrucksvoller sein.
„Ich bin Ich – Paula Modersohn-Becker. Die Selbstbildnisse“: bis 9. 2., Böttcherstraße
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