: Zusammen ist man weniger allein
In Niedersachsen haben Wohnungslose den bundesweit ersten Verein gegründet, der ihre Interessen vertreten soll
Von Simone Schmollack
Wenn es kalt wird in den kommenden Monaten, dürfte der Stresspegel hinter dem Hauptbahnhof in Hannover steigen. Dort trifft sich die Drogen- und Obdachlosenszene. Je kälter es draußen ist, desto aggressiver ist die Stimmung unter den Betroffenen – so lässt sich beschreiben, wie sich der ohnehin schon raue Ton der bis zu 30 Frauen und Männer, die sich täglich dort zusammenfinden, verändert. Von den Passant*innen werden sie gemieden, in der Bahnhofshalle patrouilliert die Polizei, mitunter schiebt sie einen bettelnden Menschen hinaus auf die Straße.
Wohnungslose haben keine Lobby. Mehr noch: Sie sind stigmatisiert und ausgegrenzt. Das wollen sie jetzt ändern. Am Mittwoch haben Wohnungslose und ehemalige Wohnungslose in Freistatt im Landkreis Diepholz in Niedersachsen den bundesweit ersten Verein gegründet, mit dem sie sich selbst politisch vertreten können. Der Verein soll Spenden sammeln, politische Anträge verfassen und für Öffentlichkeit sorgen, die Wohnungslosen gewöhnlich versperrt bleibt. „Der Verein gibt den Betroffenen eine Stimme“, sagt Stefan Schneider von der Koordinierungsstelle wohnungsloser Menschen in Freistatt. Zudem organisiert er Tagungen und Kongresse sowie zwei Mal im Jahr bundesweite Koordinierungstreffen. Konkrete Hilfen wie die Organisation von Kältebussen übernimmt der Verein nicht.
Stefan Schneider, Koordinierungsstelle wohnungsloser Menschen
In Deutschland gab es 2017 nach Schätzungen der Wohnungslosenhilfe 650.000 Menschen ohne eigene Wohnung. Die Zahl dürfte mittlerweile noch höher sein. So fallen immer häufiger männliche Saisonarbeiter aus Rumänien und Bulgarien durchs soziale Raster und landen auf der Straße.
Wohnungslosigkeit von Frauen war lange Zeit kein Thema. Auch weil Frauen stärker als Männer versuchen, ihre Obdachlosigkeit zu verbergen und eher vorübergehend bei Freunden, der Familie und Bekannten unterkommen. Etwa 30 Prozent der Wohnungslosen in Deutschland sollen der Wohnungslosenhilfe zufolge Frauen sein. In Hannover gibt es schätzungsweise 4.000 Wohnungslose, etwa 400 von ihnen leben auf der Straße. Nach Angaben der Zentralen Beratungsstelle Niedersachsen hatten im vergangen Jahr rund 10.000 Menschen Hilfe in niedersächsischen Wohnungslosen-Einrichtungen gesucht.
Dass der Verein in Freistatt gegründet wurde, ist kein Zufall. Dort kümmern sich die Bodelschwingh’schen Stiftungen Bethel seit über hundert Jahren um „Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten“: psysische, physische und soziale Grenzerfahrungen, zu denen häufig der Verlust der Wohnung zählt. 1867 wurde Bethel von der Inneren Mission in Bielefeld gegründet. 1872 übernahm der Pastor und Theologe Friedrich von Bodelschwingh die Leitung der Stiftung, die sich unter ihm zum größten diakonischen Unternehmen Europas entwickelte. Sein Ansatz: für arme Menschen auf der Straße da sein.
Heute betreibt Bethel Einrichtungen der Alten-, Kranken- und Behindertenhilfe. Darunter ist auch die Wohnungslosenhilfe Freistatt, wo Betroffene vorübergehend ein Zimmer, Verpflegung und soziale Kontakte bekommen. Sozialarbeiter*innen helfen den Gestrauchelten, einen Weg zurück ins „normale“ Leben zu finden. Doch das erweise sich anhand der wachsenden Wohnungsnot als immer schwieriger, sagt Schneider: „Da setzen wir an und fordern, dasses mehr Sozialwohnungen geben muss.“ Vor allem im Winter werde Wohnungslosigkeit zum Problem, weil die Plätze in den Notunterkünften nicht ausreichten. Auch die Little Homes, die Minihäuser aus Sperrholz, seien keine echte Alternative. In der Regel berechnen die Kommunen teure Standortgebühren. „Die können sich viele gar nicht leisten“, sagt Schneider.
Bevor sich der Verein am Mittwoch gründete, haben Wohnungslose aus ganz Deutschland eine Woche lang in Freistatt beraten, wie sie sich am besten organisieren. Die Idee zum Verein entstand allerdings schon vor vier Jahren. Damals trafen sich 40 Frauen und Männer, um über eine juristische Form für ihre Vernetzung zu debattieren. Beim zweiten Treffen waren es laut Schneider bereits 100 Teilnehmer*innen aus Hannover, Köln, Lüneburg, Nürnberg und Pforzheim. Der Verein mit 8-köpfigem Vorstand wird neben Bethel unterstützt vom Land Niedersachsen, der niedersächsischen Diakonie und von der „Aktion Mensch“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen