berliner szenen
: Die Liebesbrief-Affäre

Eine leere Seite! Der ideale Liebesbrief!

Langsam wird es Zeit für eine Erklärung, warum zurzeit so viele Briefumschläge mit leeren Seiten in den Briefkästen landen. Dafür müssen wir kurz zurück ins Jahr 2006. Damals rief ein inzwischen pensionierter Kritiker einen Angriff auf die Pressefreiheit aus, weil ihm im Schauspiel Frankfurt von einem Performer ein Spiralblock entwendet wurde.

Als Claire Vivianne Sobottke 2019 ihre Performance „Velvet“ im Hebbel am Ufer zeigt, kommt es zu einer Neuauflage der Affäre. Das Opfer: ich. „Was schreibst du da?“, fragt mich Claire vor versammeltem Publikum. Sie spielt eine aus dem Garten Eden vertriebene Wilde. „Hergeben!“, fordert sie mich auf und zeigt auf mein Notizbuch. Ein bisschen Mitleid mit mir selbst und sogar mit dem Ex-Kollegen bekomme ich da schon, aber ich habe eine Notwehr-Idee: Ich reiße eine leere Seite aus. Mit dieser Beute türmt die Performerin durch die Reihen, bis sie das Blatt einem Zuschauer überreicht. Ansage: „Liebesbrief“.

Und – schwups – wurde aus der Spiralblock- eine Liebesbrief-Affäre! Und eine leere Seite zum Liebesbrief! Ein Coup, der sich rumzusprechen scheint: eine leere Seite! Der ideale Liebesbrief! Einer, dem man jedem und jeder schicken kann, ohne Worte, die man später zurücknehmen muss und in dem trotzdem all das steht, was man so gern lesen möchte. Wer also einen Umschlag mit einer leeren Seite im Briefkasten findet, sollte sich keine Sorgen machen. Im Gegenteil!

Astrid Kaminski