: Jenseits des Schnulz-Prinzips
Mit kühnen Strichen befreien Yoel Gamzou und Regisseur Frank Hilbrich den „Rosenkavalier“ von Kitsch
Von Benno Schirrmeister
Die Welt ist eine Abstraktion, geschaffen von Sebastian Hannak: Der Bühnenbildner hat eine silbrig-schwarze Rosette eckig in die Tiefe des Goethe-Theaters gestaffelt. Und die Geschichte hat ein Ziel: Regisseur Frank Hilbrich und Opern-Generalmusikdirektor Yoel Gamzou haben sie entkernt, bis sie sinnvoll scheint. Und dazwischen schreitet, gravitätisch wie ein Verhängnis, Luis Olivares Sandoval: Im Programmheft als Friseur Hippolyte aufgeführt, stattet der Tenor auf der Bühne die winzige italienischsprachige Partie mit ergreifender Schwermut aus – ein fremder Spiegel, unbegreiflich wie der Tod.
Diese allegoreske Gestalt wirkt so bedeutsam, weil Hilbrich und Gamzou knapp eine Stunde und 37 überflüssige Personen aus der von Hugo von Hofmannsthal obskur-verwirrten Handlung gelöscht haben. Die so zur archetypischen Fabel gerinnt: In die Braut, die ihren Bräutigam verachten wird, verliebt sich der Brautwerber. Nein, nicht Siegfried heißt der, sondern Octavian.
Und er wird – obacht, der Librettist hasst Sigmund Freud vielleicht nur, weil der ihm in der Therapie eine Art geistiger Vater geworden ist! – als der Rosenkavalier die Titelrolle dieser Oper spielen. Octavian ist natürlich eine Frau, Nathalie Mittelbach verleiht ihm mit klarem und gut durchdachtem Mezzosopran Körper und Seele; und auch, wenn er am Ende der Oper ein Mann werden und heiraten wird: Am Anfang hat er Sex.
Mehr und expliziter als jede andere Figur der Opernliteratur bis dahin, eingeschlossen den Cherubino Mozart’s, sein androgynes Vorbild, und zwar mit Nadine Lehner, der anderweitig verheirateten Marschallin, die seine Mutter sein könnte. Und weil auch Richard Straussens Musik die Erotik des Textbuchs so ausdrücklich verdoppelt, wird das während der von den Philharmonikern mit viel Verve und Glanz gespielten Ouvertüre sogar ein bisschen gezeigt.
Die Oper der „Der Rosenkavalier“ hat ein Popularitätsproblem. Meistens wird sie im vermeintlichen Dienst an der irrelevanten Intention ihrer Autoren reproduziert, extrem oft. Sie ist also eigentlich furchtbar abgedroschen, und die Süße ihrer Melodien gerät in konventionellen Aufführungen gern zu hohler Opulenz und sentimentalem Geschwelg. Beides werden Traditionalisten in der Bremer Produktion herzschmerzlich vermissen. Denn dieses Bad im lauwarmen Dreckwasser der Terzenseligkeit wird in der Fassung von Gamzou und Hilbrich zur Kenntlichkeit entstellt: Es ist widerlich.
Ja, es gibt unsterbliche Musik in dieser Oper. Die wahre Schönheit des flirrenden Schlussterzetts der drei Frauenstimmen – die Marschallin verzichtet mit Grandezza und Sophie und Octavian leben ihre Liebe – dient aber zugleich dazu, nachträglich die abgelutschte Wiener-Walzer-Gefühligkeit zu denunzieren. Indem er sie als bewussten Anachronismus in sein Rokoko-Setting zitiert, macht Richard Strauss sie als Kitsch hörbar. Umgekehrt scheint Hofmannsthal seinen ganzen Sprachekel in der – es ist eine Komödie: also gibt es ein Happy End – Figur des verhinderten Bräutigams Baron von Ochs kondensiert zu haben. Der möchte heiraten, weil er verarmt ist, der Vater der Braut zwölf Häuser besitzt und eine angeschlagene Gesundheit hat.
Die Tochter Sophie, von Nerita Pokvytytes Sopran mit viel Persönlichkeit und weisem Eigensinn erfüllt, findet er „appetitlich, keine fünfzehn Jahr’“ und es stellt ihn zufrieden, „einen alten Tokaier zu einem jungen Mädel“ serviert zu bekommen: „Er liebt nur sich selbst“, hat Ruth Klüger über ihn einmal bemerkt.
Bis zum Erschrecken real verkörpert Patrick Zielke dieses obszöne Urbild toxischer Männlichkeit, die gegen alle singt. Mit der Partie steigt er in die tiefsten Tiefen bis kurz vorm Würgereiz: Beeindruckend und unheimlich. Bravo.
Wieder: 3. 10., 18 Uhr, 11. und 30. 10., 19 Uhr, Theater Bremen
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