Blind für die Apokalypse

KLIMA Claus Leggewie und Harald Welzer empfehlen, sich gegen die „Leitkultur der Vergeudung“ zu wehren

Damit der Verstoß gegen Ideale und Kenntnisse nicht allzu schmerzhaft wird, werden selektive Wahrnehmungsmuster entwickelt und äußere Umstände angeführt

Wir erleben eine Zeitenwende, wie es sie seit 200 Jahren nicht gegeben hat – und doch erscheint der Alltag ganz normal. Wieso das so ist und was kommen könnte, sind die Themen des Buchs „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“ von Claus Leggewie und Harald Welzer.

Die beiden Autoren beschreiben zunächst die Ursachen von Klima- und Wirtschaftskrise und kritisieren den Umgang der Politik. Konjunkturprogramme und umweltpolitische Reparaturmaßnahmen seien so unangemessen wie „das Austauschen eines defekten Wasserhahns in der Erste-Klasse-Kabine der ‚Titanic‘, nachdem sie den Eisberg gerammt hat“. Das ist gut formuliert und doch nichts Neues.

Wer einigermaßen im Film ist, kann ruhig erst auf Seite 71 einsteigen, denn ab da wird es spannend. Nachvollziehbar wird erklärt, warum das weit verbreitete Wissen über klimafeindliches Handeln bisher kaum das Verhalten beeinflusst. Psychosoziale Forschungen ergaben, dass Menschen weitaus stärker auf aktuelle Anforderungen reagieren und nur selten aus Überzeugungen handeln. Damit der Verstoß gegen Ideale und Kenntnisse nicht allzu schmerzhaft wird, werden selektive Wahrnehmungsmuster entwickelt. So verweist der überzeugte Öko auf äußere Umstände, wenn er erklären soll, warum er mit dem Flugzeug fliegt.

Soziale Katastrophen wie das Scheitern von Gesellschaften werden in der Regel erst von Historikern als solche bezeichnet, nicht von den Zeitgenossen, die glauben, dass sie gerade an ihrem Überleben arbeiten. Meist erscheint die eigene Lebensweise als unhinterfragbar und vernünftig. Deshalb hat sich die Bundesregierung auch keineswegs Gedanken über eine weniger motorisierte Gesellschaft gemacht, als der Absatz von Neuwagen einbrach, sondern finanzierte die massenweise Vernichtung fahrtüchtiger Autos. Um die Absurdität dieses Zukunftskonzepts zu verdeutlichen, liefern Leggewie und Welzer zwei Zahlen: 5 Milliarden Euro für die Abwrackprämie, 1,9 Milliarden für die Exzellenzinitiative an deutschen Hochschulen. „Apokalypsenblindheit“ nennen sie das. Ihre Begründung: Menschen erleben Gegenwart da, wo Geschichte stattfindet. Kein Kollaps, sondern gewohnte Abläufe dominieren weiterhin den Alltag: „Busse fahren, Flugzeuge fliegen, Autos stehen im Feierabendstau, die Geschäfte dekorieren weihnachtlich.“

Unsere Gesellschaft ist geprägt von der „Wachstumsreligion“. Deshalb setzten Staaten bei der Bekämpfung des Klimawandels reflexhaft auf das, was diese Kultur geprägt hat: Großtechnologien. Mit CO2-Abscheidung und gigantischen Solaranlagen in der Wüste lässt sich die herkömmliche Wirtschaftsstrategie ungebrochen fortsetzen. Das alles wird zwangsläufig scheitern.

Was aber dann? Die beiden Autoren setzen ihre Hoffnung auf eine Modernisierung der Demokratie durch „Mikropolitik“. Gruppen wie die Stromrebellen in Schönau machen erfahrbar, dass anders zu wirtschaften und gemeinsam etwas neu zu gestalten kein Verzicht, sondern Gewinn bedeutet. Naiv ist dagegen die Hoffnung von Leggewie und Welzer auf „strategische Konsumenten“: Wäre die Entwicklung der erneuerbaren Energien von Verbrauchern abhängig gewesen, die den Anbieter wechseln, wäre grüner Strom noch heute ein Nischenangebot.

Die Autoren setzen auf eine Kulturrevolution des Alltags, die ansteckend wirkt. Noch verharren viele Veränderungsbereite im toten Winkel einer auf „Politikerpolitik fixierten Mediendemokratie“. Doch jeder kann dem etwas entgegensetzen. Am Schluss sprechen sie die Leserschaft deshalb ganz direkt an: „Wenn Sie der Auffassung sind, dass die Leitkultur der Vergeudung von gestern ist und etwas zu ihrer Abschaffung beitragen wollen, dann machen Sie bitte einfach mit.“ ANNETTE JENSEN

Claus Leggewie, Harald Welzer: „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“. Fischer, Frankfurt/Main 2009, 278 S., 19,95 Euro