: Ein Kaiser ohne Kleider
Sedlmeir, der unbekannte Fast-Weltstar von nebenan, präsentiert heute Abend sein hittiges neues Album „Senioren gegen Faschismus“ im Cortina Bob
Von Uli Hannemann
Den Ohrwurm kriege ich nicht mehr raus: „Senioren gegen Faschismus“, Titelsong des siebten Albums des Berliner Musikers Sedlmeir. „Senioren gegen Faschismus/ weise gegen hohl/ dem Massenmechanismus/ ein schlauer Gegenpol“ spielt mein Hirn seit Tagen in Endlosschleife. Zum Glück übernehmen die vegetativen Bereiche das Atmen, die Organfunktion sowie das Schreiben dieser ausdrücklichen Empfehlung, sonst wäre ich jetzt tot.
Die Musik scheppert in leicht funpunkig gebrochenem Schlagerstil, der an die frühen Goldenen Zitronen („Porsche, Genscher, hallo HSV“) erinnert. Doch mit gerade einmal zwei Minuten Länge ist der Song zu straff für die Heavy-Rotation.
Das ist typisch Sedlmeir. Fast jede Nummer besitzt Hitpotenzial, dessen Ausbeutung er durch die gewählte Kürze jedoch selbst torpediert, als wollte er sagen: „Ich könnte, wenn ich wollte. Aber das interessiert mich nicht. Ich spiel das Stück eben mal kurz an, und dann mache ich das nächste. Sonst wird es euch am Ende noch langweilig, vor allem aber mir. Erfolg ist suspekt.“
So lässt sich eventuell auch der Song „Die neuen Dicken“ verstehen, der sich für Sedlmeirs Verhältnisse über geradezu monumentale drei Minuten und 20 Sekunden auswalzt: „Sie sind nicht wirklich dick. Sie machen sich dick.“ Nicht Fatshaming ist das Thema, sondern das sinnbildliche Breitmachen einer neuen Elite mit neuen Tricks wie der Vermarktung unechten Losertums durch die Musikindustrie. Darf auch hier eine selbstironische Schleife vermutet werden?
Eventuell. Anführungszeichen. Fragezeichen. Genau das macht den Reiz vieler Texte aus. Schon der kurze Einstieg „Guten Tag“ brennt die erste Nebelkerze ab: „Dieses Album ist nur ein Fanal. Eine Fackel. Eine Erinnerung … an die Luminanz der Erleuchtung.“ Dazu minimalistische Klänge, ein ausgeprägter Drumbeat. Ein Augenzwinkern in Wort und Ton. Vielleicht trägt der Kaiser ja gar keine Kleider. Aber nicht, weil er selbst verarscht wurde, sondern weil er eine diebische Freude darin empfindet, sein Volk zu verarschen. Er unterläuft die Erwartungen zumindest derer, die ihn nicht kennen. Seine nur mittelgroße aber auf vornehmste Art fanatische Fangemeinde kommt hier voll auf ihre Kosten.
Doch auch die lässt sich noch immer überraschen. 40 Jahre nach dem Stahlbad der Gedichtinterpretation in der gymnasialen Mittelstufe ist man weiter darauf konditioniert, in jede noch so schlichte Zeile subversive, autobiografische, ironische, übertragene oder gesellschaftspolitische Botschaften hinein zu interpretieren. Wo vielleicht keine sind, oder doch, oder „ist man“ (ähem) womöglich zu dumm?
Sind es stattdessen leere Lyrics, deren Aufgabe es einfach nur ist, die von minimalistischem Electro bis opulentem Rock so abwechslungsreiche Musik kongenial mit ihrem wohlklingenden Eigenrhythmus zu tragen und schweben zu lassen, was ja – „einfach nur“? – an sich schon Zweckerfüllung genug wäre? Exemplarisch dafür steht auch „Jugend und Weltraum.“ Da heißt es: „Denkt bitte immer nur in groß/ Es gibt ein Leben vor dem Tod.“ Die spacigen Klänge spielen die Weite des Alls an, nur um sie gleich darauf wieder mit tiefgründigem Humor zu verraten. Dem kopflastigen Rezensenten wird so liebevoll wie gründlich der Kopf gewaschen. Und zwar von innen, bis er hoffentlich von seiner Ausdeutungsmanie befreit ist.
An anderer Stelle, beim weiteren Ohrwurm „Frau mit Hund“, tritt die Message hingegen klar zutage: Ein zufriedenes Leben mit einer Frau. Und einem Hund. Mehr als diese simple Essenz des Daseins braucht es nicht. „Unser Hund ist wie wir, steht gerne hier/ trinkt sein Bier“. Eine fröhliche Melodie, eine harmonische Grundstimmung, bis auf einen kleinen Bruch: „Aber einmal hat uns einer ein bisschen ausgelacht/da habe ich ihn ganz einfach umgebracht.“ Gleich darauf ist alles wieder gut.
Dazwischen spielen wiederkehrende Dialoge mit einer „Angel“ (zweite Stimme: Mareike Hube) wie in dem lakonischen Frage-und-Antwort-Spiel „?!“ lässig mit der eigenen Existenz als unbekannter Weltstar. Hube singt, eine Stimme wie Kirsty McColl, überdies im Duett „Du nicht“: „Es ist alles aus demselben Zeug geschnitzt/ es ist belegt, bestätigt und geritzt.“ Auch hier geht es wieder um nicht weniger als alles oder nichts, den Sinn oder den Unsinn des Lebens. Ein kryptisches Liebeslied? Kann sein. Wer sich festlegt, ist schlau und dumm zugleich.
Sedlmeir: „Senioren gegen Faschismus“ (Weltgast/Indigo). Albumtaufe Cortina Bob, Wiener Str. 34., heute um 22 Uhr
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