Ohrlöcher für Kinder?
JA

SCHMUCK Schon Kleinkinder tragen oft Ohrstecker. Jetzt prüft ein Berliner Gericht im Fall einer Dreijährigen, ob das Körperverletzung ist – und ob sich Eltern oder Piercerin schuldig gemacht haben

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Emine Demirbüken-Wegner, 50, CDU, ist Staatssekretärin für Gesundheit

Aus dem sogenannten Ohrlochprozess – was für eine übertriebene Bezeichnung – eine gesundheitspolitische Grundsatzfrage zu stilisieren, halte ich für völlig abwegig. Da rufen Menschen nach dem Staat, die andererseits die überbordende Bürokratie geißeln. Hier ist Elternverantwortung gefragt und keine staatliche Reglementierung. Außerdem zeigt die öffentliche Diskussion, zum Beispiel auch in Internetforen, dass die Mehrzahl der Mütter und Väter sehr verantwortungsvoll mit dieser Frage umgeht und sich nicht leichtfertig über das Kindeswohl hinwegsetzt. Ich halte daher staatliche Auflagen für unnötig und setze lieber auf gesundheitliche Aufklärung und Eigenverantwortung der Eltern.

Jasmin Lang, 7, ist Schülerin und hat vor sechs Wochen Ohrlöcher bekommen

Ich habe meine Mama überredet, dass sie mir die Ohrlöcher erlaubt. Aber so fest musste ich gar nicht betteln. Ich wollte Ohrringe, weil es schöner ist und ich nicht so langweilig aussehen will, wenn ich mit meinen Eltern auf Hochzeiten oder Feste gehe. Mit meinen Freundinnen verkleide ich mich manchmal, da sind Ohrringe auch schöner. Meine Freundinnen Hannah und Charlotte haben schon länger Ohrringe, die haben mich auch ausgelacht und geärgert, weil ich keine habe. Wir spielen manchmal das Ausschlussspiel, zwei spielen zusammen und eine darf nicht mitspielen. Einmal war das Ausschlussthema Ohrringe, und ich durfte nicht mitspielen, das fand ich voll blöd. Ich hab meine Ohrlöcher bei einem Friseur bekommen, der ist in der Nähe von meiner Schule. Da gab es verschiedene Ohrringe, Blumen, die waren rot, bunt oder blau. Und noch Stecker in Gold und Silber, aber die haben mir überhaupt nicht gefallen, die waren auch viel zu groß. Ich hab mir die blauen Blumen ausgesucht, die sind innen dunkelblau und außen ein bisschen heller. Bei dem Friseur haben sie bis drei gezählt und bei drei in beide Ohren gleichzeitig mit einer Pistole reingeschossen, damit es nur einmal weh tut. Es hat aber nur ganz wenig weh getan, Zahnarzt ist viel schlimmer! Wenn ganz kleine Kinder Ohrringe bekommen, finde ich das aber nicht so gut, die können das ja noch gar nicht selbst wollen. Dann tut das bestimmt auch beim Stechen mehr weh. Und wenn sie älter sind und es ihnen nicht gefällt, dann streiten sie mit ihren Eltern. Kinder und Eltern sollen sich nicht so viel streiten.

Detlef Diepen, 54, ist Arzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin in Oldenburg

Aus medizinischer Sicht habe ich nichts einzuwenden gegen das Ohrlochstechen auch bei jungen Kindern. Ich bin für die künstlerische und kulturelle Freiheit der Personen, die sich dafür entscheiden. Die Behandlung ist wenig schmerzhaft und die Komplikationsrate durch Infektionen oder Blutungen eher gering. Diese lassen sich zur Not auch gut behandeln. Bei anderen Piercings und Hauttätowierungen ist das anders, davon rate ich bei Jugendlichen unter 16 Jahren grundsätzlich ab. Hier überwiegt das medizinische Risiko: Wegen der viel höheren Entzündungsrate und auch, weil die Haut nie wieder in ihren ursprünglichen Zustand gebracht werden kann. Einen Bezug herzustellen zwischen dem Ohrlochstechen und der Beschneidung finde ich unverhältnismäßig. Der medizinische Eingriff bei einer Beschneidung ist sehr viel gravierender. Es gibt aus meiner Sicht keine vernünftigen Gründe, schon gar keine hygienischen, Jungs zu beschneiden: Wenn ich schmutzige Ohren habe, dann wasche ich sie und schneide sie nicht ab!

NEIN

Ulrike Riedel, 64, war bei den Grünen, ist Juristin und Mitglied im Deutschen Ethikrat

Das Ohrlochstechen ist wie alle medizinischen und nichtmedizinischen invasiven Eingriffe eine strafbare Körperverletzung, die nur dann gerechtfertigt ist, wenn eine wirksame Einwilligung der Betroffenen vorliegt. Auch Minderjährige können einwilligungsfähig sein, wenn sie Wesen, Tragweite und mögliche Risiken des Eingriffs beurteilen und danach handeln können. Ab welchem Alter das ist, hängt vom Entwicklungsstand des Kindes und der Tragweite des Eingriffs ab. Eltern können stellvertretend für ihr Kind nur dann wirksam einwilligen, wenn dies dem Kindeswohl dient. Ich bezweifle, dass das Ohrlochstechen dem Kindeswohl dient, zumal es nicht risikolos ist. Schmerzen, Entzündungen und Infektionen können folgen. Eltern müssen hier vorsichtig sein und abwarten, bis das Kind selbst entscheidungsfähig ist, auch wenn das Kind noch so quengelt. Ich meine: Bei Kindern keine Ohrlöcher stechen, Jugendliche sollten selbst entscheiden dürfen.

Linus Schütte, 32, Vorsitzender der Ersten Organisation Professioneller Piercer

Lasst Kindern ihre Unversehrtheit. Ich pierce generell keine Kinder unter 14 Jahren, auch nicht mit dem Einverständnis der Eltern. Kinder können sich der Tragweite eines solchen Eingriffs gar nicht wirklich bewusst sein. Die notwendige Pflege für ein Piercing kann ihnen nicht genau und verständlich erklärt werden, und es kommt deshalb oft zu Entzündungen und anderen Komplikationen.

Kinder und Jugendliche sollten die Möglichkeit haben, selber über ihren Körper zu entscheiden, wenn sie alt genug sind, um sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Hier sollte auch kein Unterschied zwischen Ohrläppchen-Piercings und anderen Piercings gemacht werden und durch die Gesetzgebung eine klare Aussage geschaffen werden. Wir fordern ein „Nein“ zu solchen Eingriffen an Menschen unter 14 Jahren.

Susanne Philipp, 39, Referentin der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW

Glitzern hin, Funkeln her: Kleine Kinder entscheiden nicht selbst, ob sie Ohrlöcher bekommen – es sind die Eltern. Eltern haben eine gesetzliche Sorgfaltspflicht zum Schutz des Kindes. Kinder haben das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Gegen Ohrlöcher bei kleinen Kindern sprechen weitere Gründe: 1. die Entzündungs- und Allergiegefahr. 2. Die Ohrläppchen wachsen noch und die Löcher können wandern. 3. Im Außenohr befinden sich wichtige Akupunkturpunkte, die verletzt werden können. Wenn Ohrlöcher, dann so spät wie möglich.

Sven Piepkorn, 42, ist Zeichner und arbeitet beim Film; er hat die Frage per Mail kommentiert

Ob meine fünfjährige Tochter ein Ohrloch bekommen will oder nicht, spielt für mich erst einmal keine Rolle. Ich würde es nicht wollen, mein Kind zu verletzen. Und das Ohrlochstechen ist eine Verletzung. Wenn meine Tochter sich mir irgendwann von selbst widersetzt und rebelliert, indem sie sich heimlich ein Piercing machen lässt, läutet das wohl eine Phase der Abnabelung ein und der Vorgang ist dann als notwendiger Initiationsritus zu betrachten. Das Loch im Kind bekommt damit genau den Sinn, den es für das Kind haben sollte: Es zeigt der Welt demonstrativ etwas von sich.