Vom Mund ins Ohr für fünf Minuten

Alte Liebe (1): Der Poetry Slam hat seine besten Tage hinter sich. Derzeit wird ihm von den Lesebühnen das Wasser abgegraben – und zwar auch in Hamburg und Hannover, den beiden bisherigen Poetry-Slam-Hochburgen im Norden

Es prickelt nicht mehr, aber ganz verschwinden wird sie nie, die alte Liebe. Die taz nord würdigt in einer Serie Freizeit- und Kulturvergnügungen, die dereinst hip waren – und heute auf kleiner Flamme und mit meist veränderter Gestalt weiterköcheln.

Juni 1998, ein Hinterhof-Kellerclub. Die Wände sind so dick mit Plakaten beklebt, dass sie sich träge von oben abrollen. Ritualisiert hingeschmierte tags, und das Publikum dicht gedrängt. Kondenswasser tropft von der Decke. Weiß geschminkte, iro-bekopfte Gothic-Punks stehen neben introvertierten Rollkragenpulli-Trägern und zwischen Wagemut und Weltuntergang schwankenden StudentInnen, die mit einer Hand in der Hosentasche am Papier zupfen, als würde ihnen das die Entscheidung abnehmen, ob sie nun heute Abend „auftreten“ sollen oder nicht.

Der Kerl auf der Bühne mit dem nackten Oberkörper und der Kunstfellweste steigert das Tempo. Immer schneller, immer rhythmischer formt er die Worte, Bedeutungen werden vertauscht, Zungenbrecher aufgebohrt, Schmutziges mit Alltäglichem vermengt. Sprachduktus und Abstraktionsgrad der Wortverdrehungen bestimmen den Erfolg seines Vortrags. Ist er dann auch noch komisch, hat er schon gewonnen. Doch nein, der Gong erklingt, er hat die Fünf-Minuten-Grenze überschritten. Disqualifiziert. Dabei hatte er das Publikum im wahrsten Sinn der Übersetzung „geslammt“: einen Treffer nach dem anderen verpasst, mit Worten so wie ein Boxer mit Faustschlägen.

Dabei ging es am Anfang des „Slam Poetry“ gar nicht um einen verbalen Schlagabtausch, sondern darum, sich eine eigene Kultur zu schaffen. Seine Wurzeln hat der Dichterwettstreit zum einen in der US-amerikanischen „Spoken Word Poetry“ der 1950er Jahre, als die Minoritäten, die aufgrund von Analphabetismus vom Literaturbetrieb ausgeschlossen blieben, orale Traditionen der Literaturbeschäftigung und -verbreitung aufgriffen.

Zum anderen gelten die Beat-Poeten mit William Burroughs und Jack Kerouac als wichtiger Slam-Einfluss. Beiden Gruppen erzählten mit ihrer Form von Literatur etwas vom Rand der Gesellschaft, aus den Ghettos oder aus dem Knast. Zur Kunstform erhoben fand Slam Poetry dann in Cafés, Kneipen und Fabrikhallen statt – genau wie ab den 1990ern auch in jeder größeren deutschen Stadt.

Die Zeit für die Performance wird vorgegeben, manchmal auch ein Thema, und aus dem Publikum wird eine Jury gebildet, die Punkte von 0 bis 10 vergibt. „Die Beurteilung ist schon wichtig“, sagt Kersten Flenter, Hannovers ältester Asphaltpoet und Literaturveranstalter, „aber der Austausch das Wichtigste.“ Während die HeldInnen der Slam Poetry-Anfangszeit mittlerweile lieber bei namhaften Großverlagen publizieren als in szenenahen Fanzines, hält Flenter am Charakter des Slams fest.

Flenter war dabei, als 1992 die erste Lesung mit offener Bühne im Hannoveraner „Faust“ stattfand, er organisierte Slams und bis 2000 die Messe „Buchfrust“, eine Gegenveranstaltung zur alljährlichen Hannoveraner „Buchlust“ der niedersächsischen Literaturbüros.

Die Aufbruchstimmung der frühen 1990er Jahre hielt im Norden vor allem in Hannover und Hamburg lange an. Aber „die Formen von Öffentlichkeit haben sich geändert“, sagt Flenter. In Hannover etwa gab es innerhalb des letzten Jahres mindestens fünf neue Lesereihen. Doch meist sind das klassische Lesungen, zwar ohne Wasserglas, aber auch ohne „Slam“: „Lesebühne“ heißt der neue Trend. Da wird sich vielleicht noch spontan mit einem vom Publikum gewählten Begriff auseinander gesetzt. Aber Wasser tropft nicht mehr von der Decke, die Plakatrollen wurden gegen orangefarbene Plastikfluter ausgetauscht, und die Fellweste ist einem Anzug gewichen.

Kerstin Fritzsche