Der Campingplatz als Mikrokosmos
: Notizen aus dem Himmelreich

Jan Sternberg zu Besuch bei den Dauercampern von Caputh

Eingang ins Himmelreich findet jeder, elf Euro kostet der Platz pro Zelt und Nacht mit zwei Personen. Der Weg dorthin ist weder schwer noch entbehrungsreich: Nur zehn Minuten sind es mit dem Zug ab Potsdam. Ganz nüchtern betrachtet ist das Himmelreich ein Campingplatz. Mit Dauergästen, einige davon schon seit 50 Jahren auf dem Platz, mit sächsischen Jugendgruppen und holländischen Familien. Ereignisarm – und dennoch ein Mikrokosmos.

Der Name Himmelreich stammt aus Zeiten der Weltwirtschaftskrise. Da kamen junge Arbeitslose aus Potsdam hierher, brachten Nesseltuchbahnen aus den Babelsberger Webereien mit, bauten Zelte auf der von Schilf umgebenen Halbinsel und schufen sich ein Himmelreich in der Krisenzeit. Ihre Schlafstellen in Potsdam vermieteten sie – und besserten sich so die Arbeitslosenunterstützung auf. Fische gab’s aus dem See, Trinkwasser und Flaschenbier beim Bootsbauer Scheffler, der an der Inselecke seine Werkstatt unterhielt.

Hans-Georg Spory hat das alles aufgeschrieben. Seine Himmelreich-Chronik auf den Knien erzählt der 87-Jährige in seiner Potsdamer Neubauwohnung von alten Zeiten. Auf einem Familienporträt von 1929 sitzt seine Schwester im Charleston-Kleid vor dem Zelt, daneben der Vater mit einer Mütze in Kreissägenform. Die Sporys waren eine bürgerliche Familie, Wassersportler, die am Wochenende aus Potsdam mit dem Boot herausfuhren. Mit den Arbeitslosen habe man sich gut verstanden, so Spory. Er wurde Soldat im Zweiten Weltkrieg, lebte fünf Jahre in britischer Kriegsgefangenschaft in Zelten in Ägypten und schwor sich, nie wieder in einem Zelt zu leben. Dennoch kam er in den Fünfzigerjahren wieder ins Himmelreich, mit seiner Frau Lieselotte.

Es ist bestimmt nicht übertrieben, die beiden als Stützen der damals neuen Republik zu bezeichnen. Lieselotte stellte zum 50-jährigen Jubiläum des Platzes dessen „Bedeutung für die Arbeiterbewegung“ heraus und meinte damit die Aussteiger von 1930: das Himmelreich, eine Potsdamer Ausgabe der „Kuhlen Wampe“ im Südosten Berlins. Dort erinnert heute noch eine Tafel an den Film von 1932, für den Bertolt Brecht das Drehbuch lieferte. Die „Kuhle Wampe“ ist heute ein Vereinszeltplatz, für Tagesgäste unzugänglich, dafür mit Wohnwagenverbot, was das Flair der damaligen Zeit deutlich besser bewahrt als die Keramikgraureiher und Modelleisenbahnen in den Vorgärten der Dauercamper im Himmelreich.

Brigitte und Günter Pütz, beide 67 und auch schon seit 50 Jahren Gäste des Himmelreichs, liefern sich einen Tomatenzucht-Wettkampf mit den Wagennachbarn. Der Zusammenhalt sei nicht mehr so wie früher, sagen sie. Über die Wessis unter den neuen Dauercampern wolle man aber nicht klagen, die hätten sich ganz gut eingefügt. Auch gegen Thomas Mundt haben sie nichts.

Dabei wäre das leicht möglich: Immerhin fährt der 42-jährige Telekom-Unternehmer aus Berlin mit dem Maserati vor. Er hat ein Wohnwagenareal mit Klimaanlage für 100.000 Euro in Sichtweite der Platzkneipe aufgebaut. Doch auch er will eigentlich nur Ruhe, Badespaß für seine vier Kinder und die Möglichkeit, abends mit Dreck unter den Fingernägeln ein Bier zu trinken. Sein Maserati erscheint wie eine Familienkutsche – nur das Motorengeräusch ist verräterisch.

Zeltplatzbetreiber Roger Groß, der den Platz vor fünf Jahren von der Gemeinde kaufte, geht auf seine Weise mit dem Lauf der Zeit um: Das Ostalgische seiner Dauercamper hilft, weil so niemand Luxus erwartet. Der Weststandard kommt erst allmählich. In den Neunzigerjahren wurde der Platz vernachlässigt. Jetzt steht ein neues Waschhaus, ein zweites soll folgen. Der Mecklenburger Groß wurde nach 1989 Computerunternehmer. 2001 kehrte er zurück nach Caputh, „um mal wieder etwas Neues zu machen“. Er hat sich den Kapitalismus gewünscht und dessen rheinische Ausführung bekommen. Das wurmt ihn. Er schwört auf den Markt und hat als „Bürgermeister“ des Himmelreichs dessen Verlierer vor Augen.

Die Zeit, als der Platz seinen Namen bekam, scheint inzwischen wiedergekehrt. Im Gewirr der Wohnwagen verstecken sich mehrere, die auch im Winter bewohnt sind. Weil das Leben hier draußen billiger ist, wenn man am Propangas zu sparen versteht und auf die Nebenkostenrückzahlung seiner Wohnung spekuliert. Der drahtige Andy in der Handwerkerhose sagt, er sei bis Dezember auf dem Platz. Ist das ein Wettbewerb, wer es am längsten aushält? „Nein“, knurrt er, „das ist ein Wettbewerb, wer am billigsten lebt.“