Die Straße als Wohnzimmer

Rund 300 Jugendliche leben am Bahnhof Zoo auf der Straße. Gewalt und Missbrauch im Elternhaus und die Sehnsucht nach Freiheit haben sie dorthin getrieben. Ein Besuch bei einer Hilfseinrichtung

VON RAFAEL BINKOWSKI

Zwei Jahre hat Anja auf der Straße gelebt. „Es gab Stress zu Hause“, erzählt die 24-Jährige, „dann habe ich am Bahnhof Zoo Leute kennen gelernt.“ Zum ersten Mal hatte Anja das Gefühl, verstanden zu werden. Im Elternhaus hatte sie Gewalt und Ablehnung erfahren, am Bahnhof Zoo hingegen eine große Gemeinschaft.

Einfach in den Tag hineingelebt habe sie am Bahnhof Zoo, sagt Anja – wie bis zu 300 Jugendliche auch. „Ich hatte keine Zeitpeilung.“ Den Tag habe man mit Alkohol und Kiffen verbracht, manche hätten auch „härtere Sachen“ ausprobiert. Die Nächte hat Anja im Winter in „Nachtcafés“ verbracht: Anlaufstellen der Treberhilfe, wo man schlafen kann, Wäsche waschen, telefonieren, auftanken.

Das Leben auf der Straße war gleichbedeutend mit Freiheit. „Es gab keine Verpflichtungen, niemand hat mir etwas vorgeschrieben.“ Die „Bullen“ waren der Gegner, die Erwachsenenwelt war weit weg. Erst nach zwei Jahren, als sie schwanger war, schaffte Anja den Ausstieg.

Sven hat die Zeit auf der Straße anders erlebt. „Beschissen“ sei das Leben gewesen, ein halbes Jahr habe er so verbracht. Der Vater war Alkoholiker, vom Jugendamt wurde er in eine Wohngemeinschaft gebracht. „Das waren Nazis, die haben den ganzen Tag die Band Landser gehört“, sagt Sven. Deswegen ist er abgehauen, kam zum Bahnhof Zoo, hat mal hier, mal dort übernachtet.

„Man fühlt sich heimatlos“, sagt der 20-Jährige. Morgens Schnorren in Charlottenburg, mittags Treffen am „Breiti“, wie der Breitscheidplatz genannt wird. Über ein Wohnheimprojekt ist Sven herausgekommen. Heute hat er zwar keine Arbeit, aber wenigstens eine Wohnung.

Zwei typische Beispiele: „Gewalt, Missbrauch oder Ablehnung im Elternhaus sind fast immer die Ursache“, sagt Stefan Thomas. Der Psychologe hat für seine Doktorarbeit ein Jahr lang die Jugendszene am Bahnhof Zoo beobachtet (siehe Interview).

Alkohol und Drogen spielen eine bedeutende Rolle: „Wir haben festgestellt, dass über 90 Prozent Bier trinken“, sagen Beate Jost und Ingo Tuchel, zwei von sieben Sozialarbeitern bei der Treberhilfe. Sie sind Ansprechpartner im Treffpunkt „Die Hardenberger“ an der Kohlrauschstraße. Alkohol und Haschisch seien normal, bei vielen auch so genannte „Drogencocktails“ aus Alkohol, Heroin oder Medikamenten.

Der Bahnhof Zoo ist nach wie vor der wichtigste Anlaufpunkt der Szene, die sich ansonsten an vier Brennpunkte verteilt: neben dem Zoo auch am Ostbahnhof, auf der Kurfürstenstraße und am Alexanderplatz. Doch der Mythos des Bahnhofs Zoo ist ungebrochen. Der Standort wird als „cool“ empfunden, sagt Stefan Thomas, er biete der Szene Geborgenheit. Und doch grenze man sich von den Junkies und dem Schwulenstrich in der nahen Jebensstraße ab.

Was sich seit den „Kindern vom Bahnhof Zoo“ in den 70er-Jahren verändert hat, ist auf jeden Fall das Hilfsangebot. „Erst wurde ein alter Doppelstockbus hingestellt, dann kam ein Sanitärcontainer“, erinnert sich Jutta Gropper vom Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Inzwischen gebe es ein gutes Netz an Angeboten, wodurch Kinder am Bahnhof Zoo die Ausnahme geworden seien. Die meisten sind zwischen 16 und 25 Jahre alt.

Wie wichtig Anlaufstellen wie die „Hardenberger“ in Tiergarten sind, das unterstreicht Anja heute noch: „Ich habe hier Freunde gefunden, das gibt Rückhalt. Ich komme immer noch häufig.“