Ein bisschen wie in Texas

Unser Autor fühlt sich in Brandenburg immer wohler. Wenn er mal kurz weg ist, stellen ihm Nachbarn Essen vor die Tür – oder hängen gleich ein ganzes Rehkitz im Garten auf

Von Philipp Mausshardt
(Text)und Karoline E. Löffler (Illustration)

Jetzt ist Inge leider tot. Meine Nachbarin starb im hohen Alter. Noch vor einem Jahr saßen wir bei uns auf der Terrasse, tranken Wein und sie plauderte über die vielen Feste, die man früher im Dorf gefeiert habe und wie nach der Wende das Gefühl der Zusammengehörigkeit mehr und mehr verlorenging. Inge und ihr Mann Sigismund waren die Ersten, die uns willkommen hießen in einem Brandenburger Dorf, an dessen einziger Bushaltestelle morgens nur noch ein Kind wartet. „Schön, dass auch mal junge Leute kommen“, sagte Inge zu uns. Ich bin 61.

Vor und nach der Landtagswahl las ich in den Zeitungen viel über die Enttäuschung der Ostdeutschen, darüber, 30 Jahre nach dem Wegfall der Mauer noch immer „abgehängt“ zu sein. Das ist kein larmoyantes Jammern, es ist eine nüchterne Feststellung. In der Kleinstadt Lenzen bei uns in der Prignitz gab es nie viel Industrie. Aber die Klavierfabrik Perzina lieferte ihre Tasteninstrumente immerhin in 60 Länder. Heute ist dort eine Ruine, Perzina-Klaviere werden inzwischen in China produziert. Auch für den deutschen Markt. Jeder hier kann solche Geschichten erzählen von enttäuschten Hoffnungen, von betrügerischen Westfirmen, von ausgebluteten Dörfern.

Jetzt, im Sommer, kamen viele der Fortgezogenen in den Ferien für ein paar Wochen zurück. Auch die Kinder von Mario, der uns hin und wieder beim Renovieren unseres Hauses hilft. Die jungen Menschen kommen aus Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hamburg oder Berlin, wo sie gute Jobs haben. Es ist fast wie in Polen oder Rumänien, wo eine ganze Generation ihr Geld im Ausland verdient.

Vor ein paar Wochen machte uns Mario ein ungewöhnliches Geschenk. Eine Frau hatte ein Rehkitz überfahren – das passiert in der Prignitz leider häufiger – und er war zufällig mit dem Auto an der Unfallstelle vorbeigekommen. Mario ist Jäger und lud das tote Tier kurzerhand in seinen Kofferraum. Er nahm es aus und hängte es an einen Haken in unseren Pflaumenbaum, weil er wusste, dass wir an diesem Tag aus Berlin kamen.

Da hing es nun, das tote Reh im Pflaumenbaum.

Zutaten

Rehrücken vom überfahrenen Kitz

300 g Hokkaido-Kürbis mit Schale

50 g Pinienkerne

1 Zwiebel

1 Zitrone

Salz, Pfeffer

Zubereitung

Die Zwiebel fein hacken, den Kürbis in kleine Würfel schneiden. In der Pfanne beide anbraten, bis sie Farbe annehmen. Pinienkerne zugeben und nochmals etwas anbraten. Mit Salz, Pfeffer und Zitronensaft abschmecken und warm stellen.

Den Rehrücken kurz in der Pfanne anbraten, bis er von allen Seiten leicht gebräunt ist. Nochmals für fünf Minuten im Backofen bei 180 Grad rosa garen. Auf einem Teller mit dem Kürbisgemüse servieren.

Meine Frau war nicht begeistert, als sie es sah. Ihr erster Kinofilm hieß „Bambi“. Wir hatten eine kurze Ehekrise, weil ich mich bei Mario herzlich dafür bedankte. Dann zerteilten wir (Mario und ich) das Tier und ich packte es in die Tiefkühltruhe, den Rücken und die Leber bereitete ich am Abend frisch zu. Meine Frau aß nichts davon.

Aber bis auf solche kleinen Missverständnisse lieben wir diesen Osten. Die Menschen sind viel schnörkelloser in ihren Gesprächen, die Landschaft ist so viel wilder als im Westen, wo wir herkommen. Manchmal glauben wir, in Texas zu wohnen. Auf der weiten Prärie weiden die Kühe, abends knallt häufig ein Schuss. Auf den leeren Landstraßen hupen sich die wenigen Autofahrer zu. Sie beklagen ihre Entlegenheit und wir freuen uns daran.

Unser Haus schließen wir nicht mehr ab, wenn wir tagsüber wegfahren. Nicht einmal Diebe gibt es hier. Meist steht mehr vor der Tür als vorher: ein Glas Gurken, eine Schale mit Tomaten. Das Dorfmuseum in der alten Schlossscheune wird jeden Morgen aufgeschlossen und abends wieder zu. Dazwischen ist niemand zur Aufsicht da. Argwohn ist jedenfalls keine Erfindung der Ossis.

Um uns herum ist viel Wald. Kiefern vor allem, aber zunehmend auch wieder Eichen und Eschen. Es ist nur die Frage, wie man hineinruft. So hallt es zurück. Von den Besserwissern und Halsabschneidern haben sie hier die Nase voll. Aber wer genau hinhören kann und freundlich ruft, bekommt ein ehrliches Echo.

Der Toskanaschwabe in mir wird jedenfalls zunehmend stiller. Ich klage immer seltener darüber, dass sie hier keine Maultaschen kennen, keinen Tafelspitz mit Spätzle, kein Carpaccio und kein Bœuf Bourguignon. Im Umkreis von dreißig Kilometern gibt es kein einziges italienisches Restaurant. Gutes Essen wird wahrscheinlich sowieso überbewertet.

Dafür gleicht unser Gemüsegarten einem kleinen Wunder. Von den zwei Kürbispflanzen, die in dem sandigen Brandenburger Boden so üppig wachsen, als wollten sie uns besonders herzlich willkommen heißen, ernähren wir uns nun schon seit Wochen. Mit unseren riesigen Zucchinis versorgen wir die Nachbarn. Ich vermisse nichts. Meine Spätzlepresse fängt an zu rosten, stattdessen liegen immer öfter Kartoffeln auf meinem Teller. „Des fresset nur d’ Säu“, sagen sie da, wo ich herkomme. Aber da sagen sie viel, was nicht stimmt.

Leute von außerhalb nennt man in Schwaben „Reig’schmeckte“, argwöhnisch beäugte Menschen, die erst nach mehreren Generationen wirklich dazuzählen. Eine derartige Abneigung habe ich in Brandenburg nie erlebt. Eher Neugier oder fragendes Kopfschütteln, was man, als aus einem reichen Bundesland kommend, hier suche.

Inge fragte nie. Leider – oder zum Glück – wissen sie hier nicht, wie reich sie selber sind.

Ein Schwabe in der Prignitz Kulinarisch wurde unser Autor in Frankreich und Süddeutschland sozialisiert. An dieser Stelle erkundete er rund ein Jahr lang die Lebensmittelrealität seiner neuen Heimat in Brandenburg. Mit dieser Folge endet die Serie.