Simulierte Welten

Differenzierung ist angesagt bei dem Streit um die Frage, ob Computerspiele zur Verdummung und Vereinsamung von Kindern und Jugendlichen führen. Strategiespiele zum Beispiel können eine bessere Bewältigung des Alltagslebens vorbereiten

VON CLAUDIA BORCHARD-TUCH

Erzeugen Computerspiele Gewaltbereitschaft? Führen sie zu Verdummung und sozialer Isolation? Unablässig warnen Kritiker vor diesen Gefahren und behaupten obendrein, dass Computerspiele zu einer Verrohung der gesamten Gesellschaft führen. Doch ganz so einfach scheint es nicht zu sein.

„Die spielerische Beschäftigung von Jugendlichen mit ihrer Umgebung ist natürlich“, meint Jürgen Fritz, Leiter des Forschungsschwerpunktes „Wirkung virtueller Welten“ der Fachhochschule Köln. In einer zunehmend von Medien geprägten Welt seien auch virtuelle Erlebnisse von Bedeutung. Und während der Hamburger Freizeitforscher Horst Opaschowski davon überzeugt ist, dass die unablässige Konfrontation mit Bild- und Textfragmenten den Anstieg konzentrationsgestörter Kinder verursacht hat, beobachten Kindergärtnerinnen Zappelphilippe, die erst vor dem Bildschirm ihre Ruhe finden.

Möglicherweise bereiten zahlreiche Computerspiele sogar auf eine bessere Bewältigung des Alltagslebens vor. Denn die Welt, in der wir leben, wird immer komplizierter und undurchschaubarer, und Norbert Bolz, Professor für Medienwissenschaft und Medienberatung an der TU Berlin, fand heraus, dass bestimmte Computerspiele auf die Meisterung dieser unübersichtlichen Realität vorbereiten können. Es sind die Strategiespiele, die Teile der Wirklichkeit simulieren und verschiedene Taktiken anbieten, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

In „Civilization III“ wird die Entwicklung der menschlichen Kultur nachgespielt. Man simuliert die Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zur modernen, hoch technisierten Gesellschaft, die schließlich die Erde verlässt, um den Weltraum zu erkunden. „Die Computersimulation funktioniert wie eine Art Zeitraffer, also durch eine extreme zeitliche und räumliche Verdichtung, die Struktur von Erfahrungen simulieren kann, die sonst nur in großen Lebensspannen akkumuliert werden können. Strategiespiele sind eine Trainingssituation für unseren modernen Alltag“, erklärt Bolz.

In einem Strategiespiel gibt es keine klare Spielregel, die zum Sieg führt. Immer wieder stellt sich die Frage: Welche Strategie hat welche Folgen? Jede Situation erfordert eine andere Vorgehensweise. Die simulierte Welt wird als wandel- und steuerbar erlebt. Eindimensionales Denken ist wenig Erfolg versprechend. Erforderlich ist vielmehr eine Logik von Trial und Error – handeln und ausprobieren, ob sich die Strategie bewährt. An Gut und Böse wird in einem Strategiespiel nicht gedacht. Es gibt nur eine so genannte evolutionistische Moral, so Bolz. Miteinander konkurrierende Werte entstehen in der komplexen Entwicklung von selbst, und ob sich der „beste“ durchsetzt, ist ungewiss. Sicher ist in einem Strategiespiel nicht ein Zuwachs an Moral, sondern eine Steigerung der Intelligenz.

Dass Computerspiele zu einer Zunahme an Intelligenz führen können – davon sind auch andere überzeugt, beispielsweise der Autor Steven Johnson. Nach Johnson fördern Computerspiele kognitive Fähigkeiten sogar stärker als Bücher. „Das Lesen von Büchern führt zu einer chronischen Unterforderung der Sinne“, behauptet Johnson. „Anders als Computerspiele, die Kinder in eine komplexe Welt voller bewegter Bilder und musikalischer Landschaften führen, sind Bücher einfach nur eine öde Aneinanderreihung von Worten, sie folgen einem festgelegten linearen Pfad.“

Auch in anderer Hinsicht sei der Computer dem Buch überlegen, so Johnson. Nicht der Computer isoliere, sondern das Buch: „Während Computerspiele die Jugend in komplexe soziale Bindungen führen, in denen sie virtuelle Welten erforschen, zwingen Bücher das Kind, sich in einen stillen Raum zurückzuziehen, isoliert und passiv konsumierend.“ Dies widerspricht der Vorstellung vom einsamen, sich selbst überlassenen Bildschirm-Player und steht in Einklang mit Ergebnissen der Forschungsgruppe „Teachers Investigating Eductional Multimedia“, die beobachtete, dass Kinder sich häufig in kleinen Gruppen vor dem Computer zusammenfinden.

Und nicht zu vergessen das Internet, das Menschen an verschiedenen Orten zum gemeinsamen Spiel zusammenkommen lässt. „Gamer“ vergnügen sich in so genannten Multiplayer-Spielen, bei denen die Teilnehmer – vor verschiedenen Bildschirmen, aber an einem Server – miteinander spielen. Zahlreiche Jugendliche formieren sich zu so genannten Clans: Computer-Teams mit eigener Homepage, die ständig das Reaktionsvermögen trainieren und Strategien austüfteln, um in „Clan-Wars“ erfolgreich zu sein. Viele treffen ihren Spielpartner auch in natura auf bis zu sieben Tage dauernden Lan-Partys auf dem elterlichen Dachboden oder in Turnhallen.

Aus einer Informationsgesellschaft, die ihre Zukunft im Cyberspace sieht, sind Computerspiele nicht mehr wegzudenken. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass virtuelle Gewalt reale auslösen kann. Doch sollten die unablässigen Warner, die jedes Computerspiel automatisch verdammen, unterscheiden lernen.