Erkundungen in der Zombie-Apokalypsen-Halle

Zwischen Sushi-Laufband und Reset-Taste: Das Festival „Spieltriebe“ lädt ab Donnerstag in Osnabrück zu fünf Streifzügen durch szenisches Neuland ein

Von Harff-Peter Schönherr

Was macht ihn aus, den neuen Menschen, den Menschen der Zukunft? Dass er zur Ware geworden ist – oder zur Maschine? Dass er sich allmächtig fühlt – oder entfremdet? Wer sich einem der Sechs-Stunden-Abende von „Mensch®“ aussetzt, hat am Ende eine Antwort. Nein, falsch: Er hat viele Antworten, herausfordernd viele. Und niemand, mit dem er dabei unterwegs ist, im Shuttle-Bus, zu Fuß, hat dieselben.

„Mensch®“ ist die achte Ausgabe des „Spieltriebe“-Festivals, mit dem das Theater Osnabrück alle zwei Jahre szenisches Neuland betritt – auch, indem es, als junges, programmatisch zeitgenössisches Experimentallabor, Orte der Stadt bespielt, die noch nie zuvor eine Bühne waren.

„Natürlich ist es zunehmend schwer, solche Orte aufzuspüren“, räumt Birga Ipsen ein, die sich mit Jens Peters die Festivalleitung teilt. „Wir sind viel rumgefahren dafür, haben nach Leerständen Ausschau gehalten, viele Leute gefragt, und wenn du was Gutes gefunden hast, gibt es natürlich oft Hemmnisse, zeitlich, versicherungstechnisch“. Da ist etwa dieser seit Jahren verwaiste „Grillmaster“-Schnellimbiss: „Auch diesmal war da leider nichts zu machen.“ Da ist dieses grün gekachelte Ex-YPSO-Kaufhaus in der Stadtmitte, das seit einer halben Ewigkeit als Investment-Brache vor sich hingammelt. „Auch da haben wir schon oft gefragt – ohne Erfolg.“

Aber auch diesmal bietet „Spieltriebe“ interessante Orte auf: Eine „Sportarena“-Filiale, die kurz vor dem Abriss steht. Zwei von außen ziemlich nach Zombie-Apokalypse aussehende Lagerhallen des Tischdekor-Herstellers „Duni“. Das barocke Gut Leye, seit 1680 in Familienbesitz. Einen umgebauten Wehrmachts-Speicher am Hafen, aus den 30ern.

Auf fünf Routen wird all das erkundet. Startpunkt ist das Theater am Domhof mit „Die Menschenfabrik“, nach einer dystopisch-utopischen Kurzgeschichte von Oskar Panizza. Da endet das Ganze auch wieder, mit einer Party, im Innenhof, Live-Band inklusive.

Zwischen Mensch und Cyborg

Es gibt Konstanten bei „Spieltriebe“. Eine davon: Die beeindruckende Zahl der Uraufführungen. Aber das Festival lebt von seiner Innovativkraft. Diesmal neu: Rauminstallationen als Grenzgänger zwischen darstellender und bildender Kunst. Besonders herausfordernd ist Yi-Jou Chuangs partizipatives Origami-Sushi-Laufband „Wir lassen () vorbei“, das uns mit einem News-Overkill konfrontiert, der uns selektieren lehrt: Was ist wichtig und was wahr, was hat welche Quelle, welches Ziel und welchen Subtext, was eignet sich zum Kommentieren, was zum Laden, Löschen, Teilen?

Zwölf Neuproduktionen umfasst das dreitägige Festival, vom Tanzprojekt bis zur Performance, vom Schauspiel bis zur Mini-Oper. Wer es verpasst, hat bei vier der Produktionen Glück – sie werden in den Spielplan übernommen. Kevin Rittbergers „Iki.Radikalmensch“ etwa, ein verstörendes Stück über eine Paarbeziehung zwischen Mensch und Cyborg, eigens für das Festival ge­schrieben. Oder Sarah Berthiaumes „Nyotaimori“, das uns in die Abgründe der „Verflüssigung“ der Erwerbsarbeit der Zukunft stürzt, zwischen Selbstverwirklichung und -verlust.

Wer den „Spieltriebe“-Spielplan liest, begegnet höchst seltsamen Titeln wie „RLQN“, die sich jeder Entschlüsselung verweigern – und die Erklärung, dass Lan Phams Installation „das Emotionsspektrum zwischen dem Gefühl technischer Überlegenheit und Versklavung, zwischen Sentimentalität und Zukunftsangst, zwischen der Profanisierung und Sakralisierung der Technik“ erforscht, vertieft diese Verrätselung noch. Aber auch ein Wiedererkennungseffekt wie „A Clockwork Orange“ findet sich, und er fordert den Spielern der sechs Amateurtheatergruppen des Theaters, die sich für ihn zum „Projektjugendclub“ zusammenfinden, viel Mut ab: Wer erinnert sich nicht an Stanley Kubricks legendäre Verfilmung?

Ein Festival über Reset-Tasten und Klone, über Kodierungen und die Grenzen des Vorstellbaren, über Selbstoptimierungen und die Frage, so Jens Peters, „ob der Mensch sich selbst als schützenswert begreift“, und das nicht nur als Registered Trademark.

Ein Festival, bei dem der Zuschauer sich nicht zuletzt davon verabschieden muss, dass der Vorhang erst am Abend hochgeht – ganz abgesehen davon, dass sich Vorhänge hier ohnehin rarmachen. Start der Routen ist zwischen 16 und 17 Uhr. Und dass sie Titel tragen wie „Gottes Konkurrenz“ oder „Infernale Kunst“, signalisiert: Wohltemperiert ist hier nichts. Für alle, die Bizarrerie mögen, wagnisreiches Theater mit einer Mission.

Do, 6. 9., bis Sa, 8. 9., Osnabrück, Theater Osnabrück, diverse Orte