Der Alltag ist kontrovers genug

HOMMAGE Heute Abend beginnt im Arsenal-Kino das Asian Women’s Film Festival. Den Auftakt macht „Talent Time“, der fünfte und letzte Film der früh verstorbenen malaysischen Regisseurin Yasmin Ahmad

Die malaysischen Zensoren beanstandeten eine Szene, in der sich die Eltern der Hauptfigur im Ehebett durchkitzeln

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Es geht um einen Talentwettbewerb an einer High School: Die Schüler üben ihre Instrumente und ihre Choreografien, sie lernen ihre Texte und treten schließlich gegeneinander an. Eigentlich passiert nicht viel in Yasmin Ahmads fünftem Kinofilm „Talent Time“, schon gar nichts Spektakuläres, und doch ist er genau die Art von Film, die die Regisseurin in ihrem Heimatland zu einer umstrittenen Figur gemacht hat. Heute Abend wird er als Eröffnungsfilm des Asian Women's Film Festival im Arsenal gezeigt – eine Hommage an die Regisseurin, die im Juli diesen Jahres mit nur 51 Jahren vollkommen überraschend an einer Gehirnblutung starb.

Asiatisches Kino ist in den letzten Jahren für viele seiner Fans im Westen zu einer Art Extremsportart geworden: die extreme Gewalt in Martial-Art-, Action- und Horrorfilmen von Johnnie To bis Park Chan-wook, extreme Langsamkeit in den Werken von Regisseuren wie Lav Diaz oder Tsai Ming-liang, extreme Experimente mit der Narration im Kino von Wong-Kar Wai oder Apichatpong Weerasethakul. Wer mit den so geschürten Erwartungen an die Filme von Yasmin Ahmad geht, wird enttäuscht. In ihrem Hauptberuf als Regisseurin von Werbefilmen hat sie gelernt, wie man seinem Publikum entgegenkommt, und von ihren Regievorbildern wie Charlie Chaplin, Pedro Almodóvar, Clint Eastwood und Yoji Yamada, wie man aus bitteren Geschichten herzerwärmende Filme macht, ohne in den Kitsch abzurutschen.

Ihre Formensprache ist relativ konventionell, ihre Helden sind ganz normale Leute, und ihr Sujet ist der Alltag, das menschliche Neben- und Miteinander, die kleinen menschlichen Katastrophen und Höhepunkte. Was ihre Filme in ihrem Heimatland zeitweise so prekär gemacht hat, versteht man nur, wenn man Malaysia und seine sehr speziellen innenpolitischen und kulturellen Probleme kennt.

Die britischen Kolonialherren brachten im 19. Jahrhundert Chinesen und Inder als Arbeiter in den muslimischen malaiischen Archipel. Bis heute machen diese Minderheiten mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung Malaysias aus. Nachdem das Land 1957 die Unabhängigkeit gewonnen hatte, prägte die malaiische Mehrheit Politik und Kultur des Landes. Unterschwellige Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen führten im Mai 1969 zu schweren ethnischen Auseinandersetzungen und Straßenschlachten zwischen den dominierenden Malaien und der Minderheit der Chinesen in der Hauptstadt Kuala Lumpur, ein Ereignis, das bis heute ein Tabuthema geblieben ist.

Als Reaktion darauf verabschiedete die Regierung Anfang der 70er-Jahre Programme, die darauf abzielten, die Dominanz der bumiputras, der „Söhne des Landes“, also der Malaien, in allen Gesellschaftsbereichen zu zementieren. Die staatliche Universitätsausbildung ist bis heute nur für sie kostenfrei, und sie erhalten großzügige Unterstützung und Kredite für Geschäftsgründungen. Gleichzeitig präsentiert sich das Land etwa in seiner Tourismuswerbung als multikultureller Vielvölkerstaat.

Seit der Nachkriegszeit hat das Kino Malaysias diese multikulturelle Realität nicht abgebildet. Das malaysische Kino war eigentlich ein malaiisches Kino, in denen Vertreter der chinesischen und indischen Minderheit so gut wie nie vorkamen, und wenn, dann nur als Witzfiguren oder Ganoven. Dass Ahmad diese Probleme in alltäglichen Geschichten thematisiert, hat sie in Malaysia kontrovers gemacht. Ihr erster Kinofilm „Sepet“ (2004), eine Romeo-und-Julia-Geschichte zwischen einem Chinesen und einer Malaiin, konnte erst gezeigt werden, nachdem sie mehrere Szenen geschnitten hatte. Dazu gehörte unter anderem eine Sequenz, in der die Eltern des malaiischen Mädchens sich im Ehebett durchkitzeln – die Zensoren sahen das als Herabwürdigung der muslimischen Ehe an.

In „Talent Time“ fehlen solche „kontroversen“ Szenen. Doch das ganz normale Miteinander von malaiischen, chinesischen, indischen und „eurasischen“ Schülern zu zeigen, ist im Kino Malaysias ungewöhnlich genug. Ahmad selbst hat die Kontroversen um ihre Filme in Interviews heruntergespielt. „Idealerweise vergisst man die ethnische Zugehörigkeit der Figuren nach einer halben Stunde“, sagte sie in einem Gespräch. Stattdessen betonte sie, dass sie einfach bewegende Filme über Menschen machen wolle. Mit „Talent Time“, einem berührenden Film voller Musik, Tanz und Gesang, ist ihr das gelungen. Postum bekam sie dafür den Preis für die beste Regie beim Malaysia Film Festival.

■ Asian Women’s Film Festival: Programm unter www.arsenal-berlin.de