Cyborgs in der Bleiwüste

Von Absturz bis Höhenflug: Die Route „Gottes Konkurrenz“ des „Spieltriebe“-Festivals des Theaters Osnabrück erforderte Durchhaltewillen und war ein theatrales Wechselbad

Fabrikwesen trippeln und trippeln: Die Auftakt­inszenierung „Die Menschenfabrik“ langweilt Foto: Jörg Landsberg

Von Harff-Peter Schönherr

Nicht lange, und ein Trüppchen Tüllrockträger trippelt auf die Bühne. Unbeholfen, mit weißen Söckchen, karnevalesken Perücken, naivem Lächeln. So sehen also Menschen aus, die nicht geboren werden, sondern gezüchtet, ohne Denkvermögen. „Ich liebe dich!“, sagen sie. Zu mehr reicht es nicht. Skurril ist das, schräg, bizarr. Gute Idee. Aber das Trippeln dauert. Und dauert. Wohl, weil es so lustig ist. Langeweile kommt auf.

Und das ist nicht das Schlimmste: Die Fabrikwesen emanzipieren sich. Um zu zeigen, dass sie jetzt denken können, legt ihnen das Textheft Weltverbesserungsappelle in den Mund, von Klimakrise bis Migration. Und ab da ist das Ganze dann nur noch eins: fremdschäm-peinlich. Denn Ironie, Satire, Sarkasmus ist dieses simplifizierende Sonntagsreden-Pathos nicht. Und es dauert. Und dauert. Im Publikum werden Köpfe geschüttelt.

75 Minuten ist „Die Menschenfabrik“ lang, Regisseur Jakob Fedlers Utopie nach Oskar Panizza, die Auftaktveranstaltung aller fünf Routen des Festivals „Spieltriebe“ des Theaters Osnabrück. 30 Minuten hätten locker gereicht, denn komplex ist hier nichts, klamaukig dagegen viel. Dass das Programmheft in endlosen Bleiwüsten etwas über Computerintelligenz, Demokratie und die „Selbstabschaffung des Menschen“ erzählt, macht die Sache nicht besser. Ein furchtbarer Fehler, die Produktion nach „Spieltriebe“ in den regulären Spielplan zu übernehmen.

Glücklicherweise ist Fedlers Fehlleistung rasch vergessen. Denn der Abend ist noch jung. Über sechs Stunden dauert die Theater-Reise, von Spielort zu Spielort, von Genre zu Genre, von Stilsprache zu Stilsprache, Shuttlebus-Transfers inklusive. Die nächste Station unserer Route „Gottes Konkurrenz“ ist die Liebfrauen-Kirche.

Tanztheater erwartet uns hier. Und dass die folgenden 20 Minuten „Tabula Rasa“ betitelt sind, passt perfekt. Reset auf Null? Gnädigerweise ist danach auch jedes „Ich liebe dich!“ aus dem Kopf.

Es beginnt mit überirdisch zarter Harfe. Querflöte flicht sich ein. Und dann umwebt Mauro de Candias emotionsdichte Choreografie Orchester und Zuschauer in atemberaubender Intensität. Grausilberne Cyborgs gleiten über und zwischen die Bankreihen, spähen von der Orgelempore herab und bevölkern den Altarraum, huschen und verharren, hocken und fallen, laufen und liegen, vereinzeln sich und drängen sich aneinander, lieben und kämpfen, ertragen und rebellieren, wie steuerungslos, wie in plötzlicher, ungeahnter Freiheit. „Tabula Rasa“ ist das Glanzstück des Abends.

Die drei asiatischen Stationen danach, beim Tischdeko-Hersteller Duni, haben es also schwer. Vor allem TingTing Pangs verkopfte Konzert-Installation „Der alte Traum“. Wer die Menschen sind, die hier grüblerisch auf und ab schreiten, an Seilen ziehen, Unverständliches singen, bleibt rätselhaft. Aber das Bühnenbild ist grandios: Ein riesiger, zerteilter Baum, dessen entlaubte Krone das Orchester halb betont und halb verbirgt. Der Mensch, zeigt sich, eignet sich die Natur an, auch wenn sie dabei stirbt.

Das Glanzstück des Abends: In „Tabula Rasa“ ziehen Cyborgs durch die Liebfrauenkirche Foto: Uwe Lewandowsky

Auch in Kyungjin Lims Oper „Das Ebenbild“ geht es um Selbstüberschätzung. Und auch hier ist es das mit Symbolismen aufgeladene Bühnenbild, das punktet, nicht das Thema. In weiten Schaufelschwüngen wird aus Schubkarren Erde auf den Boden geschleudert, mit überbreiten Besen kurz darauf wieder weggefegt. Aus einem Kinderwagen leuchtet es wie von einem neuen Messias. Es geht ums Klonen, um die ethisch-moralischen Grenzen der Forschung. Dass das Orchester eher verstörende Geräusche macht als Musik, unterstreicht die innere Qual der Protagonisten klug.

Duni inszeniert übrigens an diesem Abend auch: sich selbst. In der Garküche „Kin Khao“, in der es in der Pause Massaman-Curry mit Jasmin-Reis gibt und vegane Frühlingsrollen, ist das halbe Weihnachts-Sortiment drapiert. Und in der Keller-Lagerhalle, wo sich normalerweise die Retouren stapeln und bei „Spieltriebe“ die Orchester spielen, ist eine herzige Szene mit Schlitten und Geschenkpäckchen aufgebaut. Naja.

Und dann ist da natürlich noch Yi-Jou Chuangs Sushi-Performance „Wir lassen () vorbei“. Phase 1: Von einem Running Sushi ein in 20 Origami-Arbeitsgängen gefaltetes Themen-Sushi wählen, dessen Foto-Füllung verschlagworten, das Ganze zurückstellen. Phase 2: Bereits verschlagwortete Fotos kommentieren. Je 60 Zuschauer stellen sich in Zweierteams einer Simulation des (Fake)-News-Overkills, der uns täglich lähmt? Coole Idee. Allein das Sushi-Falten muss Wochen gedauert haben.

Sechs Stunden zeitgenössisches Theater, an deren Ende Fragen bleiben: Warum nur hampeln weite Teile des Publikums in der „Menschenfabrik“ den dümmlichen „Was du nicht willst, das man dir tu“-Ententanz mit, zur Überraschung der Schauspieler? Und warum gab es am Ende dieser plakativen Kapitalismuskritik-Farce rhythmischen Applaus? The answer is blowin’in the wind.