Lieder für ein besseres Amerika

MODERNE Kent Nagano und das Mahler Chamber Orchestra eröffnen mit einem opulenten Charles-Ives-Abend das Musikfest Berlin

Den Eröffnungsabend Charles Ives zu widmen hat programmatisches Gewicht

Das Komponieren ist eine einsame und oft fruchtlose Kunst. Maler machen Bilder. Dichter machen Texte. Auch wenn nie jemand ihr Werk zur Kenntnis nehmen sollte, existiert doch mit dem Manuskript oder dem Gemälde ein physisches Produkt als Ergebnis der künstlerischen Anstrengung. Komponisten aber schreiben nur Noten auf. Das physische Produkt ihrer Arbeit gibt es erst in dem Moment, da es von anderen Künstlern, den Interpreten, ausgeführt wird. (Ja. Elektronische Musik natürlich ausgenommen.)

Charles Ives lebte von 1874 bis 1954 und gilt heute als großer Neuerer und Wegbereiter der amerikanischen Moderne in der Musik. Man muss ihn sich als einen sehr einsamen Künstler vorstellen, besaß er doch nicht einmal einen PC, mit dem er ein Orchester hätte simulieren können. Alle Musik, die Ives schrieb, existierte viele Jahre ausschließlich in seinem Kopf. Er komponierte nur in seiner Freizeit, denn er hatte ein Versicherungsunternehmen zu führen und wurde damit ziemlich wohlhabend. Etwa mit Mitte vierzig stellte er das Komponieren gänzlich ein.

Viele Jahre später begann Charles Ives einzelne Stücke zu veröffentlichen, wurde gegen Lebensende regelrecht erfolgreich und bekam sogar den Pulitzerpreis. Viele Werke aber blieben zu seinen Lebzeiten unaufgeführt. Dazu gehört auch das Orchestral Set No.2, mit dem das diesjährige Musikfest Berlin begann. Das Mahler Chamber Orchestra, eines der derzeit interessantesten europäischen Orchester, das MusikerInnen aus vielen Ländern zusammenbringt, eröffnete unter Kent Nagano am vergangenen Freitag das Festival, das diesmal dem Schwerpunkt Amerika gewidmet ist.

Den Eröffnungsabend ganz Charles Ives zu widmen hat deutlich programmatisches Gewicht, umso mehr, als die Wahl des Formats außergewöhnlich ist. Umrahmt von der erwähnten Orchestersuite und der Symphonie Nr. 2, Stücke, die sich in der Verarbeitung ihres Materials innovativ und in der Wahl dieses Materials patriotisch geben, stehen im Zentrum des Abends: Lieder. Ives hat hierzu ein Konvolut sehr unterschiedlicher Stücke hinterlassen, das schlicht „114 Songs“ heißt und Lieder für eine Singstimme und Klavier enthält. Die Texte, die diesen Stücken zugrunde liegen, beschwören die Idee von einem besseren, früheren Amerika, huldigen Abraham Lincoln, Henry David Thoreau und der allumfassenden Natur. Der amerikanische Bariton Thomas Hampson und die israelische Sopranistin Chen Reiss geben in Berlin sehr souverän die Vokalpartien.

Der Amerikaner John Adams hat bereits 1990 einige Ives-Lieder für Orchester eingerichtet. Eigens für das Musikfest wurden zwei weitere Komponisten, der Österreicher Georg-Friedrich Haas und der Japaner Toshio Hosokawa, beauftragt, dasselbe zu tun. Sie nehmen sich dieser Aufgabe sehr unterschiedlich an. Während Haas sich darauf konzentriert, durch kreative Instrumentierung Ives’ Intentionen angemessen zu interpretieren, ließe sich Hosokawa, wollte man puristisch sein, vorhalten, doch am Ziel vorbeigeschossen zu haben.

Der Japaner umspielt die Vorlage des Amerikaners mit so viel eigenem Klangzauber, dass er die Originalkomposition gleichsam in eine andere Dimension transzendiert. Das Ergebnis ist zum Atemanhalten schön. Hosokawa hat aus dem Ives’schen Werk solche Lieder gewählt, die Erinnerungs- und Sehnsuchtsmomente in sich tragen und sich somit in jenen weiten imaginativen Raum öffnen, in dem Hosokawa selbst musikalisch zu Hause ist. Ein ungemein fruchtbarer schöpferischer Übergriff. Die ausdauernd intensiven leisen Passagen allerdings verlangen dem dauererkälteten Berliner Publikum große körperliche Selbstbeherrschung ab.

Unauffällig abhusten lässt es sich bei der abschließenden 2. Symphonie, die als fröhliches Fest für alle Freunde des musikalischen Zitats und doch sehr runde Angelegenheit gegeben wird, in der für jeden etwas dabei und oft ganz schön was los ist. Sogar die Tuba darf mitspielen; und das Allerbeste am Mahler Chamber Orchestra ist fast nicht einmal der schwungvoll makellose Klang, den Kent Nagano mit einem Dirigat evoziert, in dem sich der überlegene Ives’sche Selbstzitierhumor gleichsam gestisch gespiegelt findet.

Das Schönste ist, dass genau diese Haltung auch den OrchestermusikerInnen anzusehen ist. Sie verrichten ihre Arbeit mit offensichtlicher Freude. Ja, es will fast so scheinen, als mache Musik tatsächlich Spaß.

KATHARINA GRANZIN