Babykatzen im Luxusknast

Schwurbeln ohne Ressentiments: Das letzte Kleinod beschäftigt sich im Dokutheaterstück „Souvenir 1870“ mit Theodor Fontanes Berichten aus dem Deutsch-Französischen Krieg

Allzu häufig kommt die Inszenierung vom Hölzchen aufs Stöckchen: Szene aus „Souvenir 1870“ Foto: Marlies Kross ©Das Letzte Kleinod

Von Jens Fischer

Man nehme ein paar Fundstücke aus der Landschaft der Handlung als Requisiten, mische vor Ort recherchierte O-Töne mit dort notierten literarischen Sentenzen, arrangiere beides um thematische Fixpunkte, kleide sieben Schauspieler zeitlos modern ein und inszeniere so im Breitwandformat wie auf einem Zug. Illuminiere schließlich alles in märchenprächtigem LED-Licht und präsentiere es an krautig überwucherten Abstellgleisen der Republik.

So findet das Vorglühen zur Geburtstagsfeier des 200. Ehrentags Theodor Fontanes am 30. Dezember und die Open-Air-Bühnenkunst der reiselustigen Bremerhavener Compagnie Das Letzte Kleinod zusammen. In Senftenberg, Cottbus, Rheinsberg, Frankfurt/Oder, Potsdam und Stendal haben sie schon gespielt, jetzt rollt die Theater-Eisenbahn in Niedersachsen ein.

„Irgendetwas mit Fontane“ sollte der künstlerische Leiter Jens-Erwin Siemssen kreieren. Den Autor selbst fand er zwar zu langweilig für biografisches Drama, seine Werke zu dramatisieren, auch nicht so prickelnd. Aber den Journalisten Fontane, der als Berichterstatter feindseliger Auseinandersetzungen in Europa unterwegs war: Das passt zu den Fixpunkten der bisherigen Kleinod-Arbeiten – Flucht, Migration und Krieg.

1870 nämlich flanierte Fontane im Auftrag der Vossischen Zeitung durch Frankreich, nach der entscheidenden Schlacht von Sedan und der Kapitulation Napoleons III. verließ er die von vorrückenden deutschen Truppen gesicherten Pfade und wollte unbedingt in Domrémy-la-Pucelle das Geburtshaus der Jeanne d’Arc besuchen. Gute Idee für Touristen, schlechte Idee für Künstler ohne internationalen Presseausweis.

Da Franktireure – die während des Deutsch-Französischen Krieges aufgestellten französischen Freikorps – bei dem Schriftsteller eine Pistole und preußische Papiere, Aufzeichnungen über Truppenbewegungen sowie eine Rote-Kreuz-Binde zur Tarnung als Sanitäter fanden, lag der Verdacht nahe, sie hätten einen Spion erwischt.

Sie lieferten ihn daher ordnungsgemäß den lokalen Militärbehörden aus. Es folgten Verhöre und schließlich drei Wochen Gefängnis auf der Insel Oléron vor der bretonischen Atlantikküste, wo Fontane als Luxushäftling lebte, wie ein Offizier behandelt wurde, einen Diener beiseite gestellt und Freigang bekam.

Täglich schrieb Fontane seine Eindrücke nieder. „Kriegsgefangen: Erlebtes 1870“ ist der Titel seines Berichts. Böse Zungen behaupten, die Franzosen hätten den Autoren extra deswegen gekidnappt, um einen berühmten Stadtschreiber zu bekommen, der honorarfrei Oléron in die Literaturgeschichte einschreibt, womit bis heute Urlauber angelockt werden können.

Auch Siemssen reiste mit seinem Team dorthin. Sie wandelten auf Fontanes Spuren, versuchten dessen Erfahrungen nachzuerleben und mit heutigen Eindrücken der Bewohner abzugleichen. Mit „Souvenir 1870“ entstand so eher das Porträt der Insel, denn ein Stück über Fontane. Von ihm sind vor allem Anekdoten zu erfahren – wie seine Vorliebe für Cognac, die Abneigung gegen zähes Rindfleisch und ein verniedlichendes Frauenbild.

Über die Regentin im Insel-Fährhaus schreibt er ähnlich putzig wie über eine ihm zugelaufene Katze. Die eine deckte ihm „mit Eleganz, Schelmerei und mütterlichem Wohlwollen“ den Kaffeetisch, sei so „ein Musterbild ihrer Gattung“, die andere sei an seiner Seite ganz unbefangen „bloßes Ornament des Daseins“, keiner anderen Pflicht huldigend als „sich zu putzen und sich streicheln zu lassen“. Wobei gesagt werden darf: Wie Margarita Wiesner babykatzenkeck mit liebäugelnder Neugier durch diese Rolle schnurrt, miaut, schleicht und jault, ist selbst für Schleichpfotenhasser ein großes Vergnügen. Leider aber auch der einzig wirklich komödiantische Aspekt des Abends.

Ein rostrotbrauner Doppelstockanhänger für Autotransporte wird als Klanginstrument und Kulisse genutzt, vor allem aber als Gefängnisfestung bespielt. Darin lässt sich der Fontane-Darsteller Richard Gonlag nieder, seine Blicke schweifen und erzählt in wohlfeiler Eleganz, ergänzt von sachlichen Kommentaren des heutigen Dorfhistorikers aus Oléron, den Andreas Schulz gibt.

Die anderen Darsteller stellen das Beschriebene in strahlender Volkstheatermanier dar. Zeigen beispielsweise die Plackerei der Austernfischerei, Meersalzgewinnung sowie des Sammelns und Verkaufens von Strandgut. Fontanes Aussagen dazu werden konfrontiert mit Erinnerungen von Einheimischen zur Tradition dieser Wirtschaftszweige. Berichte vom Typhustod der Mitgefangenen Fontanes stehen solchen vom Leid der Inselbewohner in der Zeit der deutschen Okkupation während des Zweiten Weltkriegs gegenüber.

Wenn der Großschriftsteller vom Ende des Kriegs räsoniert, folgt eine Szene mit Gelbwesten, die über Macron als Präsidenten der Reichen schimpfen

Wenn der Großschriftsteller vom Ende des Kriegs räsoniert und sagt, „unser Sturm im Glase Wasser beruhigte sich“, folgt eine Szene mit Gelbwesten, die über Emmanuel Macron als Präsidenten der Reichen und Superreichen schimpfen – während das Publikum weiß, dass sich dieser Sturm der Empörung auch längst wieder beruhigt hat.

So springt die Inszenierung ständig durch die Zeiten. Die Ausstattung tut es ihr gleich. Ein uralter, grob zusammengezimmerter Leiterwagen, alte Austernkörbe, Zapfen der erst in den 1930er-Jahren auf Oléron angepflanzten Pinien, noch gebräuchliche Werkzeuge zur Austernhandhabung spielen mit, und da Fontane ein zutiefst preußischer Brandenburger war, trägt sein Diener ihm zu Ehren eine Mütze mit der Aufschrift „VEB Brauhaus Potsdam“.

Nur kommt Siemssen allzu häufig vom Hölzchen aufs Stöckchen. Eben ging die Rede noch von einem Rezept für Galetten oder den Kriegsschäden am Südflügel der örtlichen Zitadelle, schon ist von der Brennstoffgewinnung aus Kuhfladen, einer Debatte um Romantizismus oder Männergeschichten der Tochter des Festungskommandanten zu hören.

Es gelingt der Regie leider nicht, die Miniimpressionen zu einem impressionistischen Gesamtbild zu collagieren. Es bleibt ein hektisches, von französischem Liedgut atmosphärisch aufgepumptes Arrangement von vermischten Meldungen – denen aber staunend zu folgen ist, da Fontanes Art zu schreiben auch Siemssens Art zu inszenieren ist: Mal etwas schwurbelig verschwärmt zwar, aber frei von Ressentiments, Überlegenheitsgefühl, Urteilssucht.

Es ist die Leichtigkeit des poetischen Realismus, der den Abend zum Vergnügen macht. Es sind die ziellosen erzählerischen und thematischen Ansätze, die ihn anstrengend machen.

Nächste Aufführungen: Sa/So, 31. 8./1. 9., 20 Uhr, Celle, Gleisanlage OHE; 3.–5. 9., 20 Uhr, Worpswede, Bahnhof; 7./8. 9., 20 Uhr, Schiffdorf, Bahnhof Geestenseth; www.das-letzte-kleinod.de