: Die Welt ist eine Erfindung
Inszenierungen von Faustin Linyekula und der Needcompany bei der Ruhrtriennale
Von Benjamin Trilling
Die Mächtigen der Welt recken ihre Hälse über eine große Karte. Sie ziehen Linien, zeichnen Einteilungen. Otto von Bismarck hat zur Kongokonferenz eingeladen. An einem großen Tisch teilen die westlichen Herrscher 1885 ihre Beute auf. Diese Episode, welche die afrikanische Republik bis heute prägt, erzählt der Schauspieler Daddy Moanda Kamono auf der Bühne. Während Faustin Linyekula den Körper der Sängerin Pasco Losanganya mit den Unterwerfern bemalt: Belgien, Frankreich und Großbritannien.
Den Kongo gibt es nicht, schreibt Éric Vuillard in seinem gleichnamigen Buch. Kongo war eine Privatkolonie Leopold II. von Belgien, eine Aktiengesellschaft, eine Rohstoffkammer und eine düstere Welt der gezeichneten Körper, wie diese Szene nahelegt. Faustin Linyekula hat diese Vorlage überarbeitet, in der Duisburger Gebläsehalle treffen Tanzschritte und Lieder aus dem Nordwesten Kongos auf den Text.
Vuillard lässt in seinen historischen Fiktionalisierungen Herrscher der Welt im großen Welttheater auftreten. In den Karikaturen des französischen Autors treffen im stillen Kämmerchen Verträge und Kriegserklärungen ein, die für die Bevölkerung brutale Konsequenzen haben, eine Fleischwerdung von Papier.
Umso vielversprechender erschien es, dass der renommierte kongolesische Choreograf Faustin Linyekula diese Vorlage für die Ruhrtriennale adaptierte. Auf der einen Seite der Autor eines alten aufklärerischen Schlages, der polemisch die Kolonialverbrechen aus Sicht der Herrscher schildert. Auf der anderen Seite eine konkrete Darstellung dieser Konferenzdeals durch die Choreografie. Tanz bringt eine sinnliche Ausdrucksform, eine Körpersprache auf die Bühne. Das hat Linyekula bereits verschiedentlich bewiesen.
Und auch in „Congo“ tanzt er etwa entlang eines Lichtkreises, während der Schauspieler Kamono die Textpartitur wie ein Klagelied verkündet. Licht und Sound kommen hinzu. An einer Stelle schwebt eine Mauer aus Nebel über die Bühne, Motorengeräusche erklingen, Kinderschreie vermischen sich mit Tierlauten und dem Schluchzen von Linyekula, der sich an der Bühnenrampe in einen Haufen Säcke fallen lässt. Dreimal, viermal – es ist ein Kreislauf von Tod und Gewalt, der Kongo heißt. Das will Linyekula in einem physischen Raum vor Augen führen.
Das verrät auch die Textvorlage, die weiter verkündet wird. Genau daran hakt die Inszenierung: Linyekula lässt drei Viertel von Vuillards Prosa vortragen. Wer kein Französisch versteht, dessen Augen kleben die meiste Zeit des knapp zweistündigen Abends an den Untertiteln. Nur selten gelingt es dem kongolesischen Künstler, einen immersiven Raum zu eröffnen, in dem Tanz, Körper, Musik, Licht und Schatten den Text ergänzen. Hinzu kommt eine Symbolik wie die Säcke, die für die Beute der Europäer stehen und die die drei Bühnenakteure oft auf dem Rücken tragen. Das reicht nicht, bis zum Ende dominiert die Buchvorlage diese künstlerische Anklage der brutalen Plünderung im Kongo.
Europäische Selbstkritik
Postkoloniale Motive impfte Intendantin Stefanie Carp bereits in ihrem ersten Jahr der Ruhrtriennale ein. 2019 verschrieb sie dem Kunstfestival eine europäische Selbstkritik. Die „Krise der Repräsentation“ geistert als Leitgedanke durch das Programm. So befragt auch Jan Lauwers in „All the Good“ die Arsenale der westlichen Kunst. Ja, was vermag sich überhaupt noch auszudrücken? In der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck mäandern die Dialoge der 1986 gegründeten Needcompany entlang der Themen Palästinakonflikt, Terroranschlag in Brüssel, viel Identitätspolitik und noch mehr Kunst. Denn draußen rumoren vielleicht die Verwerfungen der Welt, aber dieser Sturm ist natürlich weit weg „vom Hafen für radikale Schönheit“. Dieser Hafen ist das Interieur, das die Needcompany ausstellt: halb Wohnzimmer, halb Atelier. Es ist ein Raum für ein intimes, unspießiges Familientreffen, in dem alles gesagt werden kann. Lauwers lässt gleich seinen ganzen engen Familienkreis auftreten. Der Abend gerät zur Reflexion über Kunst, von Picassos „Guernica“, bis hin zu Courbets Gemälde „Der Ursprung der Welt“, der die Scham einer Frau zeigt. In Anspielung darauf filmt Romy Louise Lauwers ihre Vagina. Um zu hinterfragen, ob da etwa über die Welt erzählt wird. Oder ist es nur ein „blubberndes Etwas“? Sie räkelt sich nackt in dieser Szene mit Elik Niv, einem ehemaligen israelischen Elitesoldaten, der Tänzer wurde.
Doch an diesem Abend erzählt er nicht viel. Nur kurz erwähnt er das „Ohrensammeln“, eine euphemistische Bezeichnung für das Töten im Gazastreifen. Genau diese Distanz will Lauwers’ Alter Ego im „All the Good“ eigentlich durchbrechen. Kunst soll Schmerz darstellen. Im Mittelpunkt der Bühne steht seine Installation aus 800 zerbrechlichen Vasen aus Hebron. In der muslimischen Welt werden sie als die „Tränen der Welt“ bezeichnet. Was sehen Europäer? Nichts, keinen Schmerz, höchstens einen „Christbaum“, wie der Künstler beklagt. „Die Welt ist nicht die Welt, sondern eine Erfindung“, heißt es müde in einem der Dialogwechsel. An diesen Abend erweist sich die ausgerufene Repräsentationskrise als erschöpfend.
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