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Das ist die Wahrheit, Herr Richter!

Der Beruf des Richters verändert die Menschen, die ihn ausüben. Einer, der das weiß, ist Ulrich Pohl: Seit 30 Jahren urteilt er am Hildesheimer Landgericht über Mord, Raub, Vergewaltigung. Pohl schwärmt nicht von seinem Job. Aber er macht ihn gerne

von Tim Meyer

Er vertraut wenigen. Manchmal ist er selbst seinen Kindern gegenüber skeptisch. Sie merken es, wenn er zu Hause anfängt zu ermitteln. Das kam mit der Zeit. Seit 30 Jahren Mord, Raub, Vergewaltigung. Seit 30 Jahren muss er entscheiden, wer die Wahrheit sagt und wer lügt. Seit 30 Jahren ist Ulrich Pohl Richter am Hildesheimer Landgericht.

Saal 134. Heute beginnt der Prozess gegen einen 37-jährigen Mann, der wegen räuberischer Erpressung mit einer Waffe angeklagt ist. Für ihn geht es um viel. Das Strafmaß liegt zwischen fünf und fünfzehn Jahren. Aufgrund seiner kriminellen Vorgeschichte droht im sogar die Sicherungsverwahrung, wenn der psychiatrische Gutachter den Hang zu weiteren Straftaten feststellt. Der Angeklagte saß bereits von 1992 bis 1998 im Gefängnis. Seine Geschichte reicht von kleinen Diebstählen über organisierte Drogengeschäfte bis hin zur mutmaßlichen räuberischen Erpressung mit einer Waffe im Oktober letzten Jahres.

Montagmorgen, neun Uhr, der Angeklagte beginnt. Minutiös soll er den Ablauf des fragwürdigen Tages im letzten Oktober schildern. Er erzählt, dass ihm das Opfer schon seit zwölf Jahren etwa 15.000 Euro schulden würde. Der Mann, ein Autohändler, hatte angeblich einen Wagen und eine Goldkette vom Angeklagten an sich genommen, als der 1992 ins Gefängnis musste. Sechs Jahre später wurde er aus der Haft entlassen, aber Wagen und Kette waren weg. Der Autohändler, den der Angeklagte als ehemaligen Freund bezeichnet, vertröstete den gerade Entlassenen. Er habe das Geld jetzt nicht. Dafür bot er ihm eine Waffe und Preisnachlass bei einem Wagen an. Bis zu dem Samstag im Oktober 2004 gab sich der Angeklagte damit zufrieden. Sechs Jahre lang. Dann wollte er das Geld sofort haben. Da keines da war, forderte er den Mercedes des Händlers und drohte ihm mit einer Waffe. Dass sich dann sogar ein Schuss löste, sei Zufall gewesen.

Beweisen kann er nicht, dass der Wagen und die Kette ihm gehörten. Das Auto war auf den Händler eingetragen. „Wegen der Sozialhilfe“, sagt der Mann. „Ach, das Sozialamt wollten sie also auch noch bescheißen.“ Es ist etwa elf Uhr als Pohl sich etwas nach vorne lehnt und zum ersten Mal lauter wird.

Der Angeklagte beteuert immer wieder: „Das ist die Wahrheit, Herr Richter!“ Pohl wechselt mit seinem Blick stetig von den Akten zum Angeklagten. Vor allem die Episoden mit verschiedenen Waffen werden immer widersprüchlicher. Manchmal schaut Pohl die beiden Kollegen neben sich mit einem dezenten Lächeln an und schüttelt den Kopf.

„Ich verstehe jetzt gar nichts mehr. Vielleicht liegt das an mir, aber ich denke, das liegt an Ihnen“, sagt Pohl und gestikuliert mit seinem Arm, so dass der weite Ärmel der Robe hin und her fliegt. Der emotionale Ausbruch ist kalkuliert, wird Pohl später sagen. Trotzdem wird seine Stimme zum Schlagbohrer und die dunklen Augen unter den grauen Haaren schauen stechend. Pohl will die Wahrheit wissen.

In Pohls Büro hängen aquarellierte Mohnblumen und Strandfotos, die nach Nordsee aussehen. Die Fotos sind in Neuseeland geschossen worden. Wenn Pohl Urlaub hat, muss er manchmal etwas weiter weg.

Fast zufällig wird Ulrich Pohl Richter. Heute weiß er nicht mehr genau, warum die Wahl nach der Schule auf Jura fiel. Vielleicht weil der Vater meinte, das sei etwas für ihn. Als er in der Referendarszeit die verschiedenen Stationen am Gericht durchläuft, entsteht der Plan, Richter zu werden. Er wird es 1975. Da ist Pohl 27 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Seit 2002 ist er Vorsitzender des Hildesheimer Schwurgerichts. Er bekommt alle Fälle, die sich gegen das Leben richten.

Vorzug: Unabhängigkeit

Pohl schwärmt nicht, wenn er von seinem Job redet. Er macht ihn gern und ist überzeugt, er macht ihn gut. Aber eine Kategorie passt in seinem Beruf nicht: „Es macht keinen Spaß, Menschen ins Gefängnis zu bringen.“

Ihm gefällt dagegen die Unabhängigkeit und dass die Leute zu ihm kommen müssen. „Ein Staatsanwalt beantragt eine Strafe, aber wir setzen sie fest. Wir sind diejenigen, die entscheiden. Das hat sicher etwas mit meiner Mentalität zu tun. Ich entscheide gerne Sachen.“

Wenn es um Entscheidungen geht, wird ihm wohl immer ein Fall in Erinnerung bleiben, der vor zwei Jahren überregional durch die Presse ging. Eine Studentin hatte ihre zwei Kinder nach der Geburt umgebracht. Pohls Kammer verurteilte die Frau zu lebenslanger Haft. „Das war eine liebe, arme Frau, aus geordneten Verhältnissen. Da ist es mir nicht leicht gefallen, zu lebenslänglich zu kommen. Aber es blieb keine andere Möglichkeit, denn immerhin hat sie zwei Kinder umgebracht.“

„Richter sind ja auch nur Menschen.“ Ein Satz, den er mehrmals sagt. Nicht nur bei solchen Fällen sei er froh, in der Schwurgerichtskammer mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen zusammenzuarbeiten. Gemeinsam wird viel diskutiert und dann „kommt viel“, sagt er. „Ich würde so etwas nie alleine machen. Man ist ja manchmal in seiner Sicht begrenzt.“

Die Internetseite „Richterdatenbank“ hat Pohl den Spitznamen „Der Kalte“ gegeben. Das ärgert ihn: „Wenn ich irgend etwas nicht bin, dann ist es kalt. Ich behandle die Leute nicht obrigkeitsstaatlich, ohne in mich hineinblicken zu lassen. Deswegen ist dieser Spitzname einfach scheiße. Damit muss man wohl leben, wenn man in der Öffentlichkeit steht.“

Die Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen schreibt in einem Bericht über eine Verhandlung Pohls: „Richter müssten sich manchmal reden hören. Vielleicht käme mancher dann ins Grübeln, ob es in diesem ,Job‘ reicht, nur revisionsfeste Urteile schreiben zu lassen.“

Pohl glaubt zu wissen, wo Friedrichsens Ärger seine Wurzeln hat. Während des Prozesses gegen die Studentin berichtete sie über die Hauptverhandlung. Nach der Urteilsverkündung war die Journalistin sehr getroffen, weil sich das Gericht für eine lebenslange Haft entschied. Sie sah den Sachverhalt anders und hätte mit ihrem Artikel gerne Einfluss auf den Prozessverlauf genommen, vermutet Pohl. „Sie ist eine 68-erin und interessiert sich mehr für den Täter als das Opfer.“

1968 konzentrierte man sich mehr auf die Täterperspektive, sagt Pohl. Und immer wird in der Kindheit nach Gründen gesucht. Am Anfang seiner beruflichen Laufbahn ist auch er davon geprägt. Das ändert sich jedoch. Der Angeklagte, den er gerade vor sich hat, tut ihm nicht Leid. Vor 30 Jahren wäre das vielleicht anders gewesen. Alter, Abstumpfung oder Erfahrung nennt er als Gründe.

Der Angeklagte mauert

Pohls Blick ist müde. Er weiß schon, dass er bei diesem Angeklagten weiterhin gegen Mauern anrennen wird. „Von wem haben Sie denn nun die Waffe? … Aha! Aber haben Sie vorhin nicht erzählt, dass Sie die von jemand anderem gekauft haben?“ Pohls Stimme ist wieder lauter. Manchmal scheint er persönlich beleidigt zu sein, wenn er zu wissen glaubt, dass der Angeklagte lügt. Mit einer wegwischenden Handbewegung sagt er: „Ich habe keine Fragen mehr.“

Der Richter weiß: Wenn er dem Angeklagten unterstellt, „Quatsch“ zu erzählen, muss er aufpassen, nicht als befangen eingestuft zu werden und damit den Prozess abgeben zu müssen. „Zynismus und Ironie sind Selbstschutz. Ich mache zwischen den Sätzen deutlich, was ich sagen will, aber die Worte sind nicht angreifbar.“

Macht hat für Pohl etwas mit Gestaltungsspielraum zu tun und den sieht er in seinem Job etwa bei der Festsetzung des Strafmaßes. Wenn es darum gehe, für eine Schuld angemessene Strafe zu finden, könnten Urteile schon auseinander gehen. Da sei jeder Richter ein bisschen anders, erzählt Pohl. Es wäre zum Beispiel gerade im Rauschgiftbereich möglich, dass es für dasselbe Vergehen in Hannover zwei und in Hildesheim vier Jahre geben würde. Hildesheim steht im Ruf, hart zu strafen.

Ein Richter dürfe nicht über Emotionen zu Urteilen kommen, sagt Pohl und weiß zugleich, dass das nicht auszuschließen ist. Deswegen ist es gut, mit den Richterkollegen und vor allem mit den Schöffen zusammenzuarbeiten. Aber „ein Arsch kriegt eben mehr, das ist auch bei uns so“, sagt Pohl, ohne zu zucken. Wenn sich die „Miesheit“ einer Tat auch in der Persönlichkeit des Angeklagten zeige, darf und soll das strafschärfend berücksichtigt werden, erläutert er.

Acht Jahre und danach Sicherungsverwahrung. Der Angeklagte hält sich die Hände vors Gesicht und blickt dann nur noch starr geradeaus. Neben vielen belastenden Zeugenaussagen ist Pohls Hauptargument für das Urteil ein psychologisches. Wenn der Angeklagte wirklich berechtigte Forderungen gegenüber dem Autohändler gehabt hätte, ist es höchst unwahrscheinlich, dass er zwölf Jahre wartet, um sie dann so plötzlich einzufordern.

Pohl erklärt, es war der Absturz des Angeklagten vom Drogenbaron „King Louis“ zu einem „lahmen“ Sozialhilfeempfänger, der in ihm den Neid auf den erfolgreichen Autohändler weckte. Wenn dieser „dickbräsig“ in seinem Mercedes Cabrio durch die Stadt fuhr, wurmte das den Angeklagten. Der psychiatrische Gutachter sagt dazu, was der Angeklagte nicht gehabt hatte oder aus finanziellen Gründen nicht bekommen konnte, das holte er sich. Dieser Gestus ziehe sich durch seine gesamte Biographie.

Pohl hebt ein paar Mal während der Urteilsbegründung die Stimme. Noch einmal sagt er, wie es ihn ärgert, so einen „Schwachsinn“ und „Quatsch“ von dem Angeklagten erzählt bekommen zu haben. Die Justizbeamten legen dem Verurteilten eine Handschelle um und führen ihn ab. Auf dem Flur umarmt er seine Frau und das zweijährige Kind. Sie weint, als er geht.

Seit 30 Jahren ist Pohl Richter und langsam kann er sich vorstellen, nicht mehr zu richten. „Es gibt so Vieles, was widerwärtig und unangenehm ist.“ Dass er dann seine Skepsis gegenüber Menschen abstellen kann, glaubt er nicht. Der Richterberuf verändert einen Menschen. Er wird dann mehr im Garten arbeiten und sich um den Hund und die Katzen kümmern. Bei den Tieren muss er nichts hinterfragen. „Die lügen nicht.“

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