Hora statt Tango

Auf ihrer Flucht vor den Nazis kamen viele europäische Juden nach Buenos Aires. Spuren jüdischen Lebens findet man vor allem in den Vierteln Belgrano und Once. Und mancher Passant fragt auf Deutsch nach der alten Heimat. Eine Spurensuche

VON KERSTIN E. FINKELSTEIN

Meinen ersten jüdischen Feiertag, den Jom Kippur, verbrachte ich in Buenos Aires in der Küche einiger jüdischer Freunde. Neben selbstgebranntem Schnaps gab es auch Käse-Schinken-Häppchen. Die Straßen im Viertel Once, das sich im Zentrum der argentinischen Metropole befindet, sind an diesen drei Tagen des südamerikanischen Frühlings wie ausgestorben. Die Gitter und heruntergelassenen Rollläden vor den Geschäften wirken nun wie ein Hinweis auf die Herkunft ihrer Besitzer. Ob diese allerdings die beiden höchsten jüdischen Feiertage Rosch Haschana und Jom Kippur in der Synagoge oder beim heimischen Fastenbrechen verbringen, ist von Fall zu Fall sehr unterschiedlich.

Meine Gastgeber flüchteten Ende der Dreißigerjahre aus Deutschland nach Südamerika. Argentiniens Pforten waren offener als jene des nordamerikanischen Bruders. Etwa 40.000 deutschsprachige Juden kamen damals nach Argentinien, wo sie auf mehrere hunderttausende „Ostjuden“ trafen. Liebe auf den ersten Blick verband diese beiden Gruppen nicht. Die Neuankömmlinge gründeten eine Reihe eigener kultureller Institutionen und Netzwerke: Synagogen, Sportvereine bis hin zum Semanário Israelita, einer deutschsprachigen jüdischen Wochenzeitung.

Ostjuden und Westjuden wohnten in den gleichen Vierteln. Gewohnt wird bis heute gern in Belgrano, gearbeitet in Once – und unterwegs kommt man auch immer wieder am neuen Gebäude der AMIA vorbei, dem stattlichen Zentrum der jüdischen Gemeinde von Buenos Aires. Dieser Neubau in der Straße „Pasteur“ war nötig, nachdem der alte Hauptsitz 1994 gesprengt worden war. Ein Attentat, das bis heute noch nicht aufgeklärt wurde. In der Weltöffentlichkeit ist es ohnehin längst in Vergessenheit geraten. Obwohl, wie ein argentinischer Rundfunkredakteur damals live berichtete, nicht nur „einige dutzend Juden“, sondern auch viele „Unschuldige“ ums Leben gekommen waren. Ebenso wie orthodoxe Juden mit ihren Hüten, Schläfenlocken und schwarzen Kaftanen im Zentrum der Stadt kein seltener Blickfang sind, so findet man auch überall in Buenos Aires den alltäglichen Antisemitismus.

Und das, obwohl Argentinien viele Juden aufnahm und ihnen damit einen Neuanfang gewährte. Doch auch in diesem katholischen Land erklärt man noch heute allen Ernstes, dass es die Juden gewesen sind, die Jesus Christus gekreuzigt haben. Friedhofsschändungen auf den langgestreckten jüdischen Ruhestätten „La Tablada“ und „Berazategui“ kommen ebenso vor wie Graffitis: Nicht selten wird darin behauptet, der Holocaust sei eine jüdische Lüge. Auch argentinisch-jüdisches Leben spielt sich zwischen den Stühlen ab.

Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise Argentiniens zwischen 2000 und 2002, die viele Argentinier nicht nur um ihre Existenz, sondern auch um ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft brachte, versuchten viele Menschen das Land zu verlassen. In den langen Schlangen vor den ausländischen Konsulaten standen auch Juden. Sie gehörten meistens zur Mittelklasse und gerade diese war am stärksten von der Krise betroffen. Vielen von ihnen erging es so wie Ariel Makaroff, der Hauptfigur des Kinofilms „El abrazo partido“, der zurzeit auch in Deutschland zu sehen ist. Ihr Judentum äußert sich oftmals nur in gemeinsamen Festen. Und wie im Film verstehen viele argentinische Juden ohnehin nicht, wie man nach Israel auswandern kann, um dort möglicherweise sogar in einem Krieg zu kämpfen. Ihr Ziel heißt „Las Europas“. Welches europäische Land, ist dabei völlig irrelevant, Hauptsache, man findet eine Arbeit.

Als europäischer Besucher begegnet man dem deutsch-jüdischen Buenos Aires noch heute oft per Zufall auf den Straßen. Meist ist dessen Vertreter über siebzig Jahre alt, trägt ordentliche Buntfaltenhosen mit Hemd oder Poloshirt und fragt im Bus, auf der Parkbank oder in einem Straßencafé nach dem Befinden der alten Heimat. Die Emigranten von einst sprechen noch heute gerne Deutsch und haben ihre „Muttersprache“ nie ganz abgelegt. Von ihren einstmals so prosperierenden Institutionen ist heute jedoch kaum noch etwas zu sehen. Lediglich das Altersheim der AFI (des ehemaligen Hilfsvereins für neu ankommenden Flüchtlinge) existiert noch. Es ist berühmt für seinen zugewandten Umgang mit den Bewohnern.

Wer auf einer Reise in die Hauptstadt Argentiniens einen Blick ins Zentrum des heutigen jüdischen Lebens werfen möchte, sollte sich einen Besuch des freitagabendlichen Gottesdienstes in der Synagoge „Libertad“ nicht entgehen lassen. Hier, in unmittelbarer Nähe des Justizpalastes, bekommt man einen Eindruck von der Vielfalt und Lebendigkeit jüdischen Lebens in Buenos Aires – trotz aller Schwierigkeiten.