Eigenwillige Tschetschenin

Der 4. September 2012 dürfte für Sara Murtasalijewa ihr schönster Geburtstag gewesen sein. Am Morgen wurde die Tschetschenin nach achteinhalb Jahren aus einem russischen Arbeitslager entlassen. Sie war 2004 wegen des Vorwurfs, einen Anschlag vorbereitet zu haben, verhaftet und verurteilt worden.

„Ich habe selten eine so aufrichtige und starke Persönlichkeit getroffen. Trotz schwerer Folter hat sich Sara standhaft geweigert, ein Schuldeingeständnis zu unterschreiben“, sagt die Moskauer Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina. Sara sei in vielerlei Hinsicht keine typische Tschetschenin. Ihre Familie habe immer in guter und enger Nachbarschaft mit russischen Familien gelebt. Russische Nachbarn aus Tschetschenien hätten noch in der Gerichtsverhandlung bezeugt, dass Saras Familie nie mit Separatisten Kontakt gehabt hatte.

2003 zog sie nach dem Tod des Vaters nach Moskau. Dank ihrer guten Englischkenntnisse erhielt die studierte Linguistin dort einen gut bezahlten Job in einer Versicherungsfirma. Bald begann sich der Geheimdienst für die agile damals 20-Jährige zu interessieren. Bei ihrer Festnahme soll sie Sprengstoff, Fotos eines Geschäfts und extremistische Literatur bei sich gehabt haben. Die Beweise seien eindeutig: Murtasalijewa habe geplant, das Einkaufszentrum zu sprengen. Obwohl sich auf dem Sprengstoff keine Fingerabdrücke von ihr fanden, erkannte das Oberste Gericht die Beweismittel an und verurteilte sie zu einer Haftstrafe.

Nicht nur Amnesty International und andere Menschenrechtler waren der Auffassung, dass der Terrorismusvorwurf konstruiert war. Sogar Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadarow hatte öffentlich erklärt, dass er nicht an die Schuld von Murtasalijewa glaube. Am Dienstagabend traf Murtasalijewa in Moskau ein. Ihr erster Besuch galt Swetlana Gannuschkina.

BERNHARD CLASEN