Unterwegs zum Hier- und Da-Sein

Angeln vorm Atomreaktor, Amateururlaubsfotos, Langzeitstudien von verlassenen Freizeitorten – und Bilder von Boris Becker (nicht der Tennisspieler): Die Ausstellung „Reiselust und Müßiggang“ beschäftigt sich mit Wegen und Abwegen der Freizeitkultur

Den Blick ins Kritische und Selbstreflexive verschoben: Andreas Meichsner (links und in der Mitte) widmet sich sarkastisch dem Massentourismus, Katharina Bosse porträtiert sich mit Fotos ihrer Kinder als Künstler­mutti Fotos: Andreas Meichsner, Katharina Bosse VG Bild-Kunst Bonn, 2019

Von Bettina Maria Brosowsky

Im Mai veröffentlichte „Zeit online“ die Zahl der bereits im laufenden Jahr am Mount Everest zu Tode gekommenen Bergbezwinger*innen: es waren zehn. Eine illustrierende Fotografie vom Camp 4 in 8.000 Metern Höhe, rund 850 Meter unterhalb des Gipfels, zeigte ein Handvoll Zelte – und eine nicht unerhebliche Menge zurückgelassenen Mülls.

Nun mag eine Besteigung des Mount Everest noch nicht zum „All inclusive“-Paket kommerzieller Reiseveranstalter gehören, Touren, gern in der zivilisationsfernen Variante des „Trekking“ durch die Höhen des Himalaya sind es schon. Genießen Sie beim Sundowner den Blick auf die schneebedeckten 8.000er, so eine Werbung.

Die Reiselust und ihre zwiespältigen Auswirkungen nicht nur auf die Umwelt, die Wahrnehmung und Eroberung der Landschaft in vergangenen Jahrhunderten sowie Wege und Abwege der Freizeitkultur untersucht derzeit, anhand von etwa 50 Exponaten, eine Ausstellung im Museum für Photographie in Braunschweig. Sie versteht sich nicht nur als Kommentar zur Jahreszeit, sondern auch als Medienreflexion, stellt zeitgenössischen künstlerischen Positionen der Fotografie einige Werke der eigenen Sammlung gegenüber, die neben der lokalen Pionierin Käthe Buchler auch internationale Fotografie aus dem 19. Jahrhundert umfasst.

Ausgedehntes Unterwegssein abseits von Handel oder kolonialer Expansion ist ein Phänomen der Neuzeit. Man kennt die Grand Tour zu Stätten der Antike, die seit der Renaissance übliche Bildungsreise für junge Adels- oder Bürgersöhne. 1786 zog es Goethe, nun bereits 37-jährig, noch auf eine derartige, 20-monatige Reise durch Italien: Auch ich in Arkadien!

Der Gartenkünstler und Exzentriker Hermann Fürst von Pückler war ab 1834 dann gar sechs Jahre in Europa, Nordafrika und dem Orient unterwegs. Neben Zeit und physischem Einsatz erforderte das Erkunden fremder Weltgegenden also auch immer nicht unerhebliche finanzielle Mittel.

Wer sich nicht selbst auf den Weg machen konnte oder auch seine Tour gründlich vorbereiten wollte, für den hielten ab etwa 1850 professionelle Fotografen Motive der einschlägigen Klassik-Stätten bereit. Der Brite Francis Bedford hatte gar das Glück, 1862 den Thronfolger auf einer mehrmonatigen Reise durch den Nahen Osten mit der Kamera begleiten zu dürfen. Er konnte so über 200 Negative belichten, die Ausstellung zeigt eine Fotografie des Zeus-Tempels auf der Akropolis in Athen.

Derartige Bildbelege prägen bis heute unsere Vorstellung von den Baudenkmalen und der antiken Kultur des Mittelmeerraumes. Im Zeitalter der Romantik hatte sich das Interesse auch auf Naturphänomene erweitert, die Idee des Erhabenen ließ nun empfindsame Seelen etwa in schroffe Alpenregionen pilgern. Ebenfalls 1862 gelang den französischen Fotografenbrüdern Bisson die allererste Hochgebirgsfotografie einer Mont-Blanc-Expedition. Gefahrvolle Topografie und menschliches Vordringen werden jedoch nicht heroisierend, sondern sachlich dokumentierend eingefangen.

Heroisch wäre hingegen das richtige Prädikat einer gut drei Quadratmeter großen Fotografie des Kölners Boris Becker, die sich dem Lac de Dixence, einem Stausee im schweizerischen Kanton Wallis, widmet. Aus stark erhöhter Perspektive aufgenommen, liegt die künstlerische Interpretation Beckers im Kontrast des Ingenieurbauwerks – eine mehrere Meter breite Staumauer, die ein spiegelglattes Wasserreservoir umfängt – und der anstehenden kargen Gebirgslandschaft, in der es wie eingestanzt liegt.

Den Bildaufbau dominiert die ab­strakte, hellblau milchige Wasserfläche, ein paar eidgenössische Flaggen sowie wenige Touristen verlieren sich in der monumentalen Dimension dieser von Menschen gemachten Landschaft. Liegt hier vielleicht die moderne Version des angenehmen Schauers, des frohen Schreckens, den einst die Romantiker suchten?

Mit subtilem Schrecken operiert auch Jürgen Nefzger in seiner Serie „Fluffy Clouds“. Auf den ersten Blick unverfängliches Grün mitsamt Freizeitvergnügungen wie Angeln, Badefreuden oder Golfen, passen die Staffagebauten im Bildhintergrund jedoch so gar nicht in die Vorstellung arkadischer Landschaften. Es sind Atomreaktoren, deren Kühltürme die namensgebenden Wolkenformationen am Himmel hervorrufen.

Die zeitgenössische Fotografie verschiebt also den Blick ins Kritische: Sarkastisch registriert etwa Andreas Meichsner Menschen und Milieus weltweiter Klubreisen, Christa Zeißig spürte in Langzeitstudien die trostlose Idylle verlassener Spiel- und Freizeitplätze auf, Rebecca Hackemann legt eine Serie verblasster Polaroids zu vergessenen US-Ortschaften an. Sie macht die Leere an aufgegebenen Geschäften, aber deren nach wie vor um Kunden werbenden Schildern fest.

Auch wenn eine Person nicht mehr aktiv mobil sein kann, mag sie doch reisen wollen. Der Niederländer Erik Kessels sammelt Fotokonvolute von Amateuren, die er als fortlaufende durchnummerierte Serien, betitelt „In almost every picture“, zusammenstellt. Vor langen Jahren zeigte er in Braunschweig einmal die Bildausbeute seiner Protagonistin Ria von Dijk, die ab dem 16. Lebensjahr bis weit über ihren 90. Geburtstag hinaus regelmäßig einen Fotoschießstand ihrer heimischen Kirmes aufsuchte.

Jetzt sind es Auszüge aus dem Nachlass eines niederländischen Taxifahrers, der über lange Jahre eine gehbehinderte ältere Dame durch Deutschland, Österreich und die Schweiz chauffierte: Aus 700 Kleinbilddias komponierte Kessels eine Endlosprojektion, nie ist die Passagierin auf dem Beifahrersitz entwürdigend porträtiert, man spürt einen Gleichklang zwischen Reisenden, Orten und der Art ihrer Fortbewegung. Er sollte das Ziel jedes Unterwegsseins sein.

Bis 29. 9., Braunschweig, Photomuseum, www.photomuseum.de;

am 28. 9., 14 Uhr, spricht der Schauspieler und Fotograf Hanns Zischler über Jean-Luc Godards ersten Film „Opération Béton“ von 1954, der den Bau der Staumauer Grande Dixence dokumentiert: Universum-Filmtheater Braunschweig