Geheimnisvolles Hinterland

AUTHENTISCHE ORTE Das Stück „Atalanta“ über moderne Piraterie profitiert vom maritimen Ambiente des Bremerhavener Jade-Weser-Ports, erklärt aber wenig

Das Bild des Piraten ist trotz der Meldungen der letzten Jahre aus der realen Welt immer noch ein romantisches, von der Wilden 13 bis zu Johnny Depps Paradiesvogel Jack Sparrow in „Fluch der Karibik“. Das letzte Kleinod, ein Theaterensemble um Jens-Erwin Siemssen, das sich auf „site specific theatre“ spezialisiert hat – die Inszenierung von Orten und ihrer Geschichte –, setzt dem eine deutlich andere Erzählung entgegen. „Atalanta“, das am Sonnabend in Bremerhaven Premiere hat, handelt von den Ereignissen auf gekaperten Schiffen, von den oft erfolglosen Versuchen, sich davor zu schützen, mit Nato-Draht und Schmierseife, von Folter, Standgerichten, katastrophalen hygienischen Bedingungen, von dem Gegenangriff durch ein sogenanntes Boarding-Team der internationalen Schutztruppen, von Lösegeldverhandlungen, von politischen Hintergründen. Und davon, wie aus der Piraterie eine Industrie geworden ist in Somalia – einem Staat, den etwa die AG Friedensforschung als „failed state“ führt.

Damit greifen Regisseur Siemssen und sein Team ein aktuelles Thema auf. Was der Truppe – anders als bei den in der Regel eher historischen Stoffen – die Positionierung erschwert. Und so gibt es immerhin ein markantes Fazit: Es ist eine Mafia, ein großes System, und jeder weiß das. Aber es bleibt auch manches offen in diesem Stück, das die Brutalität der Piraten zeigt, aber auch den brutalen Zynismus der internationalen Schutztruppen vorführt.

Spiel mit Nähe und Distanz

In „Atalanta“ greifen Nähe und Distanz auf interessante Weise ineinander: Die Ereignisse, die Figuren, zwischen denen im Alltag ja ganze Kontinente liegen, Reeder und Anwälte, Schutztruppenkapitäne und Fischer, die selbst Opfer von Gewalt geworden sind: Sie stehen sich hier zwischen Containern und Gummireifen direkt gegenüber, allzeit präsent, während die sehr reduzierte Ausstattung verhindert, dass das allzu authentisch wirkt.

Statt Paletten gibt es also Gummireifen. Das ist so, weil „Atalanta“ auch in Afrika aufgeführt wird. Und da, genauer: in Tansania, sind diese, wie Regisseur und Autor Jens-Erwin Siemssen erklärt, eine leicht verfügbare Requisite. Aber auch mit einem Autoreifen lässt sich eine Menge anstellen. In „Atalanta“ stehen sie für Waffen, Schwimmwesten, Brotteig, Helme, Boote oder Geldkoffer.

Gespielt wird dann aber doch an einem authentischen Ort: Die erste Staffel inklusive Uraufführung spielt im Jade-Weser-Port, in dem zwar noch kein echter Betrieb ist. Die sogenannten „Reach Tracker“, die später die Container auf dem Gelände umherfahren werden, sorgen trotzdem für eine interessante Kulisse. Hier wird bereits Probe gefahren, erstaunlich leise und beinahe ästhetisch illuminiert, während eine Brise vom Meer her weht und letzte Sonnenstrahlen die Wolken leuchten lassen.

Das Ensemble, bestehend aus drei Tansaniern, einer Niederländerin und zwei Deutschen, spielt auf Englisch, Deutsch und Kisuaheli. Eine Sprachbarriere gibt es aber nicht. Gespielt wird sehr körperlich, Reifen fliegen durch die Luft, ein Mann wird in ihnen über die Spielfläche gerollt. Klare Bilder sind das, und eine klare Sprache. Zwar bleiben Fragen offen – etwa die, wer in Europa an der Piraterie verdient.

Auch das Hinterland bleibt eher geheimnisvoll: eine Mafia, ein gescheiterter Staat ist das, soviel lässt sich aus dem Stück herauslesen. Auch, dass die Piraten selbst nicht nur Täter, sondern auch Opfer sind, unterernährt, schmutzig, ärmlich gekleidet. Aber mit Kalaschnikows ausgerüstet und mit Panzerfäusten. Aber Siemssen will auch keine Antworten geben, sondern dokumentieren.  ANDREAS SCHNELL

Uraufführung: 8. 9., 20 Uhr, Jade-Weser-Port Bremerhaven, Container-Terminal III. Weitere Termine: www.das-letzte-kleinod.de.