Sind Warnungen vor Blitzern unmoralisch?
JA

BLEIFUSS Es gilt als opportun, Blitzer, die Geschwindigkeiten im Straßenverkehr kontrollieren, zu verraten. Radiosender, Zeitungsverlage, Internetportale machen mit

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Maria-Sibylla Lotter, 51, Philosophie-Dozentin an der Universität Stuttgart

Rasen macht Spaß, das geht mir auch so. Geblitzt werden hingegen, kann die gute Stimmung übel abbremsen. Da freut man sich über eine rechtzeitige Blitzerwarnung, und die Freude kann sich durch das Gefühl der Solidarität – mit anderen rasenden Mitmenschen, die mich vor einem Strafzettel bewahren wollen – ins Euphorische steigern.

Aber aus diesen menschlichen Freuden und Leiden folgt nicht, dass Blitzerwarner moralisch in Ordnung sind. Denn die unwillkommene Wahrheit lautet: Fast 40 Prozent aller Todesfälle auf den Straßen werden durch überhöhte Geschwindigkeit verursacht. Ohne effektive Blitzgeräte wären es mehr, denn Verbote nützen ohne Bußandrohung wenig (wenn man nicht ein Kind hat, das durch einen Raser umkam, wie es meinem Sohn mehrmals fast passiert wäre.) Wo, wie in der Schweiz, die Bußen wesentlich höher ausfallen, nimmt auch die Verkehrssicherheit zu. Wer etwas für Lebenslügen übrig hat, kann jetzt einwenden, dass Blitzgeräte oft nicht dort aufgestellt werden, wo Unfallgefahr besteht, sondern dem unmittelbaren Zweck dienen, die Staatskasse zu füllen. Klar, andersherum wäre es besser, aber was einem wichtigen öffentlichen Zweck dient, kann auch für einen öffentlichen Nebenzweck genutzt werden.

Dirk Flege, 46, ist Geschäftsführer des Verkehrsbündnisses Allianz pro Schiene

Ein klares Ja: Wer vor Blitzern warnt, handelt unmoralisch. Allerdings ist die Unmoral hier eine abgeleitete. Denn während wir gemeinhin Menschen schätzen, die ihre Mitmenschen uneigennützig vor Fallstricken schützen, bewahrt die Blitzerwarnung den Autofahrer vor den Folgen seines egoistischen und gefährlichen Tuns. Wer in seinem blechgepanzerten Auto sitzt und Geschwindigkeitsbegrenzungen missachtet, handelt verantwortungslos. Rasen ist kein Kavaliersdelikt. Der Schulterschluss mit Schnellfahrern steht besonders den öffentlich-rechtlichen Rundfunksendern schlecht zu Gesicht. Denn ein über Zwangsgebühren finanzierter „Bildungsauftrag“ und die selbstgerechte Weltbetrachtung durch eine Windschutzscheibe passen nicht zusammen.

Bettina Cibulski, 43, ist Pressesprecherin des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs

„Flitzer-Blitzer“ werden die Blitzerwarnungen bei einigen Radiosendern genannt. Aber wer rücksichtslose Raser als „Flitzer“ verharmlost, macht gefährliches Verhalten im Straßenverkehr hoffähig. In der Praxis geht dies oft zu Lasten der schwächeren Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger und Radfahrer. Überhöhte Geschwindigkeit ist Unfallursache Nummer eins. Verkehrsüberwachung rettet Leben, weil sie abschreckt und die Geschwindigkeit im Straßenverkehr insgesamt senkt. Wer rücksichtsvoll fährt und sich an die Verkehrsregeln hält, braucht keine Blitzerwarner.

Moritz Maus, 29, ist Promotionsstudent und hat die Frage auf taz.de kommentiert

Im Auto fährt man meist gesellschaftlich isoliert, allein. Nur durch Fahrverhalten wird kommuniziert. Das ist wie in einer Gruppe Tiere, die ebenfalls im Wesentlichen durch Körpersprache und Laute – dem entsprechen die Hupe/Lichthupe – kommunizieren. Dort gilt: Der Stärkste setzt sich durch. Unsere Gesellschaft verlangt hingegen von jedem Rücksicht. Solange man im Alltag in direktem Kontakt mit anderen steht, hält man sich auch weitgehend an deren Normen. Warum soll es im Straßenverkehr anders sein? Weil man sich im Auto „frei von Gesellschaft“ fühlt? Das aber wäre falsch. Eine effektive Verkehrskontrolle bedeutet daher auch: die Gesellschaft „ins Auto zu bringen“. Warnungen vor Kontrollen suggerieren hingegen, dass die gesellschaftlichen Normen im Auto eigentlich nicht gelten.

NEIN

Hartmut Hoffmeister, 60, ist Verkehrsexperte beim Radargerätehersteller Jenoptik

Wissenschaftliche Studien belegen, dass sich Unfälle aufgrund von überhöhter Geschwindigkeit nur durch eine Kombination aus präventiven und repressiven Maßnahmen vermeiden lassen. Warnungen vor Geschwindigkeitskontrollen dienen der Prävention, denn sie führen nachweislich zu einer Beruhigung des Verkehrsflusses in dem betreffenden Streckenabschnitt, und sorgen so für Verkehrssicherheit. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Warnhinweise ohne jegliche Wirkung blieben, wenn die Ordnungsbehörden auf repressive Geschwindigkeitskontrollen mit der Verhängung von Verwarn- und Bußgeldern sowie Punkten in Flensburg verzichten würden. Allein der Appell an die Vernunft der Verkehrsteilnehmer, so die wissenschaftlichen Studien, reicht leider nicht aus, um die von der Gesellschaft vorgegebenen Verkehrssicherheitsziele zu erreichen.

Werner Kaessmann, 65, ist Anwalt, Notar und Generalsyndikus des ADAC

Verkehrsüberwachung soll die Einhaltung der Vorschriften im Interesse der Verkehrssicherheit sicherstellen. Wenn beim Blitzen aber offensichtlich finanzielle Überlegungen überwiegen, um damit marode kommunale Haushalte statt maroder Straßen zu sanieren, fühlt sich der Autofahrer abgezockt. Wenn im Radio vor Messstellen gewarnt wird, kann ich darin nichts Unmoralisches erkennen. Vielmehr wird jedem Hörer deutlich gemacht, dass überall und jederzeit mit Blitzern gerechnet werden muss. Sofern dies zu mehr Aufmerksamkeit im Straßenverkehr und damit zu mehr Verkehrssicherheit führt, ist das sogar zu begrüßen. Unmoralisch ist dagegen die Verwendung von Radarwarngeräten, wenn diese genutzt werden, um rücksichtslos zu rasen und dadurch andere zu gefährden. Verkehrsvorschriften müssen für alle gleichermaßen gelten. Daher ist es konsequent, dass die Benutzung von Radarwarnern im Straßenverkehr unter Strafe gestellt wird.

Anja Ritschel, 46, Beigeordnete für Umwelt und Klimaschutz der Stadt Bielefeld

Der vermeintlich „berühmteste Blitzer Deutschlands“ steht auf der A 2 am Bielefelder Berg. Hier gilt auf einer Gefällestrecke, die seit Jahren Unfallschwerpunkt ist, Tempo 100. Davor sind zweimal Schilder mit Blitzerwarnungen aufgestellt. Warum? Weil es uns entgegen der landläufigen Meinung eben nicht um Abzocke geht, sondern um das Verhindern von Unfällen. Auch Ortsunkundige sollen sich auf die gefährliche Situation einstellen können. Rund 196.000 (!) Überschreitungen wurden allein im letzten Jahr dort registriert – und dies, obwohl durch die Warnungen zugleich die faire Chance besteht, Gefahrensituationen, Ärger, Bußgelder und Punkte in Flensburg zu vermeiden.

Anders ist die Situation bei Blitzern in Wohngebieten oder vor Schulen, durch die eine angemessene Fahrweise sichergestellt werden soll. Eine Warnung mag hier vielleicht nicht unmoralisch sein – aber die Aspekte Sicherheit der schwächeren VerkehrsteilnehmerInnen und Lebensqualität sind so offensichtlich, dass klar auf die Eigenverantwortung der/des Einzelnen zu setzen ist.

Philipp Maußhardt, 54, ist pädagogischer Leiter der Zeitenspiegel-Reportageschule

Geschwindigkeitsbegrenzungen sind für solche AutofahrerInnen, die nicht selbst entscheiden können oder wollen, wie schnell oder langsam sie in bestimmten Situationen oder an bestimmten Gefahrenstellen fahren sollen. Alle anderen, also diejenigen, die sich ein eigenes Urteil über die Höhe ihrer Geschwindigkeit erlauben, werden durch Radarmessungen in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, beziehungsweise deswegen bestraft. Wer andere vor solchen Messungen warnt, hilft also, diese kleine Freiheit zu bewahren.