Der nächste Berliner Bezirk, der schwer im Kommen ist

Keine große Literatur, aber durchaus eine recht scharf gestellte historische Sozialtopografie: Zwei Neuerscheinungen mit dem Schauplatz Wedding

Man wird den Verdacht nicht ganz los, das wahre Leben könnte noch interessanter sein

Von Ekkehard Knörer

Gemeinplatz über den Berliner Bezirk Wedding, fast nur noch ironisch zitiert: Der Wedding kommt. Dabei ist er schon lange einer der interessantesten Bezirke der Stadt. Alter Arbeiterbezirk, lange rot, heute grün – im Sprengelkiez fast auf Kreuzberg-Niveau –, ethnisch divers wie kein anderer Bezirk, größere türkische, asiatische und afrikanische Communitys. Im afrikanischen Viertel durchaus gemeinsam mit Deutschen im Kampf gegen konservative Bewohner, die gerne die Straßennamen deutscher Kolonialverbrecher behielten.

Berlin-Romane spielen neuerdings gerne hier. Vor zwei Jahren hat Fatma Aydemir in ihrem Debütroman „Ellbogen“ die siebzehnjährige Hazal rund um den wenig gentrifizierten Leopoldplatz abhängen lassen (bevor Hazal dann nach Istanbul floh), das ist nicht weit von der Utrechter Straße, in der nun Regina Scheers Roman „Gott wohnt im Wedding“ sein Zentrum hat.

Zentrum, kann man so sagen: Da steht nämlich das Haus, dessen Geschichte erzählt wird, in kurzen Zwischenkapiteln sogar immer wieder in der ersten Person von diesem Haus selbst. Das ist ein extravaganter Erzählkniff, der die Konstruiertheit des Ganzen betont. Ein wenig unpassend erscheint das vor allem, weil das Buch, davon abgesehen, fast schon provozierend altmodisch erzählt ist, in Episoden, die sich einzelnen Figuren aus einer Perspektive nähern, in der sich Historisches immer wieder mit der Gegenwart mischt.

Scheer will das Panorama, den Wedding einst und jetzt. Einst ist vor allem die Zeit des Nationalsozialismus, dorthin führen die Wege zurück. Seit damals lebt Gertrud Romberg im Haus, im obersten Stockwerk, nun über neunzig. Eine andere Bewohnerin, Laila Fiedler, die junge Sintiza, kümmert sich um sie, bekommt ihre eigenen Vorgeschichten als biografisches Gepäck. In Gang kommt das Geschehen damit, dass ein alter Herr namens Leo Lehmann eintrifft, ein Jude, der hier einst lebte und knapp überlebte, danach nach Israel ging – er hat Romberg einst gut gekannt. Mit dabei: seine Enkelin, die mit dem Berlin der Gegenwart sehr viel mehr als der Großvater anfangen kann.

Scheer hat erst historische Bücher geschrieben, etwa über die jüdische Widerstandsgruppe um Herbert Baum. Sie hat auch Abende in einem Gesprächscafé im Wedding moderiert. Diesen Hintergrund merkt man. Man spürt, wie gut alles im Buch recherchiert ist, das ist gekonnt gemacht und lehrreich zu lesen. Es wäre nicht ganz richtig zu sagen, die Figuren seien kaum mehr als Transportmittel für das, was erzählt wird. Ganz falsch wäre eine solche Beschreibung aber auch wieder nicht. Fiktion ist hier ein Mittel zum Zweck. Scheer verfährt dabei durchaus redlich, aber mit Literatur im engeren Sinn, also einer Suche nach sprachlicher Form, hat das Ergebnis wenig zu tun.

Nicht weniger einsinnig ist das, was Nicola Karlsson in ihrem Roman „Licht über dem Wedding“ versucht. Das Buch spielt im Brunnenviertel, interessiert sich kaum für Geschichte und Topografie des Wedding, hat vor allem einen sozialen Brennpunkt gesucht. Denn arm ist der Wedding bis heute, bis zu zwei Drittel der Kinder wachsen in Hartz-4-Verhältnissen auf. Auf Figuren am Rand des Existenzminimums blickt Karlsson, auf Scheiternde und Gescheiterte. Wolf, im mittleren Alter, Alkoholiker, ziemlich fertig. Seine Tochter Agnes, die nach einem Angriff auf einen Jungen von der Schule suspendiert ist. Nur auf den ersten Blick besser dran ist Hannah, die im selben Haus wie Agnes und Wolf wohnt: Anfang zwanzig, sie verdient als Influencerin mit einem Modeblog Geld. Stürzt aber psychisch ab, der Roman folgt ihr beim Taumeln.

Das Buch bleibt in kurzen Kapiteln an der sehr engen, wechselnden Perspektive durch erlebte Rede nah dran. Kriecht ihren Protagonisten geradezu hinter die Stirn und überträgt das, was dort an Wahrnehmung und Gedanken passiert, in leicht gehetzte Dabeiseins­protokollsprache.

Manchmal etwas forciert, ebenfalls ohne größeren literarischen Anspruch, auch das ist Literatur, der die Fiktion zum Instrument wird. Hier zum Zweck der Sozialreportage, die dort hinkommt, wo der Blick der Betrachter von außen sonst endet: ins Innere der Figur. An der Grenze zur literarischen Naivität liegt der umstandslose Realismus, mit dem Karlsson verfährt.

Man wird den Verdacht nicht ganz los, dass das wahre Leben noch interessanter sein könnte als das, was Scheer und Karlsson hier als Fiktion präsentieren, vor allem in der notorischen Unwahrscheinlichkeit seiner Details. Trotzdem: Nimmt man beide Bücher zusammen, ergibt das keine große Literatur, aber durchaus eine recht scharf gestellte historische Wedding-Sozialtopografie.

Regina Scheer: „Gott wohnt im Wedding“. Penguin Verlag 2019, 416 Seiten, 24 Euro

Nicola Karlsson: „Licht über dem Wedding“. Piper Verlag 2019, 320 Seiten, 20 Euro